Bibel
Wie soll ich das verstehen?
Vom Umgang mit schwierigen (Bibel-)Texten
In der Adventgemeinde spielte das Lesen der Bibel schon immer eine wichtige Rolle. Kein Wunder also, dass Adventisten sich gerne als das „Volk des Buches“ bezeichnen. Tatsache ist jedoch, dass immer weniger Geschwister wissen, wie man die Heilige Schrift studiert. Und wenn sie es doch tun, kommen Personen, die denselben Text lesen, nicht selten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Wenn wir also glauben, dass sich die Bibel selbst erklärt, drängt sich die Frage auf: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um die Bibel richtig zu verstehen? Und welche grundlegenden Prinzipien können uns dabei helfen?
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben: Mit dem Bibellesen haben viele von uns erhebliche Mühe. Wenige Menschen lesen heute die Bibel regelmäßig. Noch weniger studieren sie gründlich. Schon lange zählen viele Adventisten nicht mehr zum „Volk des Buches“. Es verwundert deshalb nicht, dass vielerorts grundlegende Kenntnisse biblischer Inhalte nicht mehr, wie früher, selbstverständlich vorhanden sind. In Ermangelung dieser Vertrautheit mit dem biblischen Text führen individuelle Ansichten zu biblischen Themen häufig zu sehr gegensätzlichen Meinungen. Diese werden dafür gerne umso vehementer vertreten. Das Ergebnis ist häufig mehr Hitze als Licht. Aber selbst Menschen, die besser mit der Bibel vertraut sind, gelangen mitunter zu seltsamen Auslegungen, die den biblischen Befund einseitig darstellen oder gar verdrehen – auch wenn feierlich behauptet wird, dass diese Ideen alle aus der Bibel stammen.
Vielleicht noch wichtiger als die Frage der richtigen Bibelauslegung ist die Bereitschaft und Motivation, sich überhaupt mit der Bibel zu beschäftigen. Wenn ich die Bibel nicht lese, dann brauche ich mir auch keine Gedanken über eine angemessene Auslegung zu machen. Für uns Siebenten-Tags-Adventisten ist die Bibel aber das Fundament unseres Glaubens. Hier hat Gott alles mitgeteilt, was zu unserer Errettung nötig ist. Weil wir unseren Glauben auf die Schrift allein gründen, ist die Frage der richtigen Bibelauslegung für uns von grundlegender Bedeutung. Sie ist gewissermaßen wie eine Wasserscheide in der Theologie. Wer auf der Autobahn von München in Richtung Lindau am Bodensee fährt, kommt durch das schöne Allgäu an der Ausfahrt zur Stadt Wangen vorbei. Dort sieht man ein Schild mit der Aufschrift: „Europäische Wasserscheide“. Das bedeutet, dass diese flach-hügelige Landschaft Süddeutschlands die Gegend ist, die bestimmt, welche Richtung das Wasser aller Bäche und Flüsse in Mitteleuropa einschlägt. Entweder fließt das Wasser in die Donau und von dort schließlich in das Schwarze Meer – oder es fließt in den Rhein und endet in der Nordsee und dem Atlantik. Auch wenn im Allgäu nicht die höchsten Berge Europas stehen, bestimmt diese geographische Gegend doch in entscheidender Weise, in welche Richtung alles Wasser in Mitteleuropa von nun an fließt. Egal wie die Landschaft dann aussieht, das Wasser fließt beständig in zwei grundsätzlich verschiedene Richtungen: Entweder zum Schwarzen Meer im Osten oder zur Nordsee. In ähnlicher Weise prägt die Frage unserer Bibelauslegung das Ergebnis unserer Theologie. Wenn wir die Bibel mit falschen Methoden und verkehrten Denkvoraussetzungen studieren, werden wir zu verzerrten und verkehrten Schlussfolgerungen gelangen. Das wirkt sich nicht nur auf die biblischen Inhalte aus, die wir interpretieren und vertreten. Das hat auch Auswirkungen auf die Einheit im Glauben, unser geistliches Leben, unseren missionarischen Auftrag und unsere Glaubwürdigkeit anderen Menschen gegenüber.
Wozu denn überhaupt auslegen?
Manche mögen an der Stelle denken: Wozu brauche ich Hermeneutik? Ich brauche keine Bibelauslegung. Ich lese die Bibel einfach so, wie es dasteht. Punkt. Schluss! Es ist lobenswert, die Bibel ernst zu nehmen – so, wie es geschrieben steht. Allerdings ist die Vorstellung, dass wir keine Interpretation benötigen, zu kurz gedacht. Denn jeder Mensch bringt ein gewisses Vorverständnis und Überzeugungen mit, die einen Einfluss darauf haben, wie wir die Bibel lesen und verstehen. Keiner von uns tritt mit einem leeren Kopf an die Bibel heran. Außerdem wurde sie nicht auf Deutsch verfasst, sondern in Hebräisch, Aramäisch und Griechisch geschrieben. Das sind Sprachen, die den meisten von uns nicht so vertraut sind. Jede Übersetzung in eine andere Sprache ist immer auch ein Stück weit Interpretation. Dazu kommt, dass die biblischen Schreiber in einer anderen Zeit und Kultur lebten und auch dieser historisch kulturelle Kontext für ein angemessenes Verständnis der biblischen Inhalte wichtig ist. Wie können wir angesichts dieser Tatsachen dann aber sicherstellen, dass wir die Bibel richtig interpretieren und nicht etwas Fremdes in den biblischen Text hineinlesen?
Hier möchte ich auf ein paar grundlegende Prinzipien der Bibelauslegung hinweisen, die uns in der Beantwortung dieser Frage ein gutes Stück weiterhelfen können:
1) Beachte den Kontext der jeweiligen Aussage!
Der Kontext ist der unmittelbare Zusammenhang, in dem ein Bibelvers steht. Es geht hier also um die Verse vor und nach dem betreffenden Abschnitt. Darüber hinaus ist der weitere Zusammenhang im Kapitel und Buch wichtig, in dem der jeweilige Text zu finden ist. Und schließlich müssen wir den gesamtbiblischen Zusammenhang bestimmter Aussagen berücksichtigen. Auch der historische und kulturelle Zusammenhang bestimmter Aussagen ist nicht unwichtig. Wenn wir Bibeltexte aus ihrem Zusammenhang reißen, verdrehen wir schnell ihre eigentliche Bedeutung. Vor Kurzem habe ich den Spruch gelesen: „Mit einem Bibeltext, den ich aus dem Zusammenhang reiße, kann ich alles machen!“ In der Tat, wenn ich den Zusammenhang nicht richtig berücksichtige, dann wird der Ausleger mit seiner Deutung fast allmächtig und kann den Text für alles Mögliche verwenden. Dann hat der Text allerdings die Möglichkeit verloren, sich in seinem ursprünglichen Zusammenhang selbst zu erklären. Mit anderen Worten: Ein Text ohne entsprechenden Kontext wird schnell zum Vorwand für meine eigenen Ideen. Aber genau das gilt es zu vermeiden, wenn wir die Bibel auslegen. Stattdessen wollen wir der Schrift allein (sola scriptura) die Möglichkeit geben, sich selbst zu interpretieren, indem wir auf den biblischen Zusammenhang achten, in welchem bestimmte Aussagen zu finden sind.
Ein Beispiel soll kurz illustrieren, was gemeint ist. In Offenbarung 18,23 kommt das griechische Wort „pharmakeia“ vor. „... Denn deine Kaufleute waren Fürsten auf Erden, und durch deine Zauberei (pharmakeia) sind verführt worden alle Völker.“ Manche haben aufgrund von jüngeren Tagesereignissen geschlussfolgert, dass damit wohl die Pharmamedizin gemeint sein muss, die durch pharmazeutische Produkte, wie z.B. Impfstoffe, alle verführt und für den Tod der Propheten und Heiligen auf Erden verantwortlich ist. Aber ist das wirklich die richtige Bedeutung dieses Wortes und Bibelabschnitts, oder lesen wir damit etwas in den Text hinein, was vielleicht gewisse persönliche Anliegen unterstützen mag, aber dem biblischen Zusammenhang gar nicht entspricht? Bei der Auslegung dieses Bibeltextes gilt es zunächst einmal, von der Bibel selbst, und aus dem unmittelbaren Zusammenhang heraus, zu entscheiden, was die biblische Bedeutung dieses Wortes ist. Dass dieses Wort hier pharmazeutische Medikamente bezeichnet, ist aufgrund der folgenden Hinweise nicht richtig: 1) Der Textzusammenhang in Offenbarung 18. Hier geht es um Babylon und ihre Unzucht und um Dämonen, die einen negativen Einfluss haben, der berauschend ist und verführt (18,2). Pharmazeutische Medikamente kommen in diesem Zusammenhang nicht vor. 2) Die alttestamentlichen Anspielungen in Offenbarung 18 erinnern an die Plagen in Ägypten, wo es auch um Zauberei ging (2. Mose 7,11.22; 8,3.14 in LXX); und auch beim Untergang Babylons geht es um Zauberei (Jes. 47,9.12, wo pharmakeia steht). 3) Im Neuen Testament wird das Wort zum Beispiel in Galater 5,20 verwendet, wo es nicht um pharmazeutische Erzeugnisse geht, sondern um Zauberei. 4) Auch in der außerbiblischen griechischen Literatur wird pharmakeia im Sinne von Zauberei und Magie verwendet. 5) Einschlägige und renommierte Wörterbücher des biblischen Griechisch bestätigen diese Bedeutung. Deshalb verwundert es auch nicht, dass gute Bibelübersetzungen hier das Wort korrekt als „Zauberei“ wiedergeben (Luther, Elberfelder, Schlachter, Zürcher, Neue Genfer, King James, etc.)
Wenn wir neuere Bedeutungen des Wortes in den biblischen Text hineinlesen und dabei den unmittelbaren und weiteren biblischen Zusammenhang nicht angemessen berücksichtigen, betreiben wir „Eisegese“ – d.h., wir lesen etwas in die Bibel hinein, was der biblische Text so gar nicht sagt.
2) Lies den Text mit aufmerksamen Augen
Eine andere Gefahr besteht darin, dass wir gewohnt sind, bestimmte Bibeltexte für bestimmte Dinge zu verwenden. Hier ist ein Beispiel für einen solchen Umgang mit der Bibel: In Matthäus 18,20 steht: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Oft verwenden wir diesen Text, wenn wir über den Segen von Gebetsgemeinschaften und Gottesdiensten reden. Ist Jesus nicht mitten unter uns, wenn wir uns zum gemeinsamen Gebet oder im Gottesdienst versammeln? Sicherlich! Mit diesen Worten wird etwas zum Ausdruck gebracht, was durchaus berechtigt ist. Aber wenn wir den Zusammenhang in Matthäus 18 genauer betrachten, dann stellen wir fest, dass der Text nicht von Gebetsversammlungen spricht, sondern Jesus seine Nachfolger ermutigt, diejenigen zurückzugewinnen, die Fehler gemacht haben. Wenn wir Jesu Prinzipien im Umgang miteinander beachten und es gelingt, dass mein Bruder darauf hört und er zurückgewonnen werden kann, dann ist Jesus wahrhaftig mitten unter uns. Es gilt also Bibelabschnitte nicht nur gewohnheitsmäßig zu benutzen, sondern den Bibeltext mit aufmerksamen Augen zu lesen und dabei zu beachten, in welchem Zusammenhang er ursprünglich verwendet wurde.
3) Vom Klaren zum schwer Verständlichen
Lege unklare oder schwer verständliche Texte immer unter Berücksichtigung klarer Passagen aus. Bewege dich dabei immer vom Klaren zum weniger Klaren! Erhelle schwer verständliche Abschnitte im Licht klarer Bibeltexte. Es ist nicht ratsam, eine Lehre allein auf einer schwer verständlichen Aussage aufzubauen, und es ist nie akzeptabel, klare Aussagen durch schwer verständliche Aussagen zu verschleiern und dadurch in Zweifel zu ziehen. Diese einfachen, aber wichtigen Prinzipien der Bibelauslegung gelten in gleicher Weise für Aussagen, die Ellen White macht. Auch hier müssen wir den ursprünglichen Zusammenhang beachten, in dem ihre Aussagen gemacht wurden. Ebenso kommt es darauf an, den weiteren Kontext ihres Schrifttums zu berücksichtigen, und auch hier müssen wir von den klaren Aussagen Licht auf solche Aussagen werfen, die sonst vielleicht schwerer zu verstehen sind. Im Jahr 1894 schrieb Ellen White z. B. einen Brief an wichtige Gemeindeleiter in Battle Creek, in dem sie den Kauf und das Fahren von Fahrrädern verurteilte. Manche haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass Ellen White generell das Fahrradfahren verboten hat und meinen, dass Fahrradfahren Sünde ist. Wenn wir aber den ursprünglichen historischen Kontext dieser Aussage berücksichtigen, können wir besser verstehen, was sie damit meinte und was das heute für uns bedeutet. Ellen White selbst hat betont, dass in ihren Zeugnissen nichts ignoriert und beiseitegesetzt werden soll, aber „dennoch sind der [richtige] Zeitpunkt und der [richtige] Ort wichtig“, in der sie ihre Aussage gemacht hat. Damals kamen Fahrräder als Fortbewegungsmittel erst neu auf und Fahrräder waren noch keine Massenprodukte, sondern sehr teure Prestigeobjekte. Was Ellen White kritisierte, ist das Mitmachen bei einer verrückten Modewelle, die damals um sich griff. Leute gaben Unsummen aus, nur um andere zu beeindrucken oder um mit anderen mithalten zu können. Ellen White selbst hat später ihren Kindern erlaubt, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren und hatte auch nichts dagegen, dass andere Mitarbeiter ein Fahrrad benutzten. Aber wenn das Fahrrad lediglich dazu dient, um anderen zu imponieren und dafür unverhältnismäßig viel Geld ausgegeben wird, dann ist das nicht in Ordnung. Dieses Prinzip lässt sich leicht auf heutige Situationen übertragen und anwenden.
Ist ein gemeinsamer Glaube dann überhaupt möglich?
Abschließend noch folgender Gedanke. Manche meinen, dass die Bibel so vielschichtig und mehrdeutig ist, dass es nicht möglich sei, eine einzige korrekte Bibelauslegung daraus abzuleiten. Wenn dem so wäre, dann hätte die Bibel ihre Kraft und Autorität verloren, Wahrheit von Irrtum zu unterscheiden, und könnte auch nicht mehr gebraucht werden, um einen gemeinsamen Glauben zu begründen. Nicht alles in der Bibel ist immer leicht zu verstehen. Vielleicht hat Gott schwierige Texte zugelassen, um uns die Gelegenheit zu geben, sie intensiver zu studieren und so zu zeigen, wie wichtig uns Gottes Wort wirklich ist. Es ist leicht, kritische Fragen zu stellen und bewährte Dinge in Frage zu stellen. Das kann jedes Kind. Die Kunst ist, gute Antworten auf schwierige Fragen zu finden, die mit der Bibel in Übereinstimmung stehen. Das erfordert ungleich mehr Zeit und Energie. Gewiss, wichtige Fragen verdienen gute Antworten, aber manchmal werden wir durch bestimmte Personen und ihre Fragen auch unverhältnismäßig in Anspruch genommen. Dann müssen wir verantwortungsvoll abwägen, wie viel Zeit und Energie wir darauf verwenden wollen, um auf alles zu reagieren, was in Frage gestellt wird. Vielleicht ist es wichtiger, über das zu schreiben und zu sprechen, was positiv und konstruktiv über den Glauben zu bezeugen ist. Mögen wir die Weisheit haben, so Rechenschaft von unserer Hoffnung zu geben, dass unsere Antworten „taktvoll und bescheiden und mit dem gebotenen Respekt“ (1. Petrus 3,15 Gute Nachricht) geäußert werden, damit die Menschen, wenn sie unseren einwandfreien Lebenswandel sehen, zum Nachdenken kommen.
Buchtipp
Hasel, F. M. & Hasel, M. G. (2020). Wie kann ich das verstehen? Prinzipien der Bibelauslegung, Wegweiser Verlag.