Gemeinde
Eine Frage der Autorität
Gottes Gemeinde in der Zerreißprobe
Wenn es nach Stephen N. Haskell ging, dann ließ sich die Treue gegenüber Gottes Wort daran messen, ob ein Adventgläubiger Schweinefleisch aß oder nicht.1 1858 hielt Ellen White dagegen und schrieb Haskell in einem Brief: „Ich sah, dass deine Sicht in Bezug auf Schweinefleisch nicht schädlich ist, wenn du sie auf dich selbst anwendest. Aber in deiner Meinung und Wertung hast du aus dieser Frage einen Test gemacht (...) Wenn es die Pflicht der Gemeinde ist, sich vom Schweinefleisch zu enthalten, dann wird Gott es mehreren zeigen als zwei oder drei Personen. Er wird seine Gemeinde ihre Pflichten lehren.“2
Von Anfang an war es Gott wichtig, der Adventbewegung biblische Wahrheiten zu vermitteln. So erkannten einzelne oder mehrere Personen von Zeit zu Zeit biblische Wahrheiten, doch erst durch die offizielle Annahme durch die Gemeinde wurden diese Erkenntnisse zu verbindlichen Glaubensüberzeugungen. Misst Gott dem Votum der Gemeinde tatsächlich eine solch große Bedeutung bei?
Nach der großen Enttäuschung 1844 lehnten die sabbathaltenden Adventisten es ab, sich zu organisieren. Doch Ellen und James White versuchten bereits 1853, durch eine Reihe von Artikeln die Notwendigkeit einer Struktur aufzuzeigen: „Viele haben in ihrem Eifer, aus Babylon herauszukommen, einen unbedachten, unordentlichen Geist übernommen und sich in einem vollkommenen Babylon des Durcheinanders wiedergefunden.“3 So wurde in den folgenden Jahren auch den Skeptikern klar, dass ein offizieller Name und eine Organisation hilfreich wären. Zu dieser Einsicht gelangte man, weil unter anderem nur so die Koordinierung missionarischer Aktivitäten und das Halten von Gemeindeeigentum möglich wurden. Als 1863 die Generalkonferenz (GK) gegründet wurde, sah James White sie als „the great regulator“ („den großen Regulierer“). Nun konnte man der Zersplitterung vorbeugen und eine „gemeinschaftliche und systematische Vorgehensweise aller Gläubigen“ weltweit sicherstellen.4
Autorität über das Werk Gottes
Leider gab es in der Geschichte unserer Freikirche immer wieder Personen, die auf Alleingang und Unabhängigkeit setzten. In einem Brief an Charles Lee argumentierte Ellen White 1875, dass Gott nicht einer Einzelperson seinen Willen für die Gemeinde offenbaren würde, während die Gemeinde als Ganzes darüber im Dunkeln bliebe.5 Im gleichen Jahr machte die Prophetin eine der klarsten Aussagen über die Autorität der Generalkonferenz in einem Brief an den ehemaligen GK-Präsidenten George Butler, der einige fehlerhafte Ansichten über die Autorität des GK-Präsidenten verbreitet hatte: „Mir wurde gezeigt, dass keiner sein persönliches Urteilsvermögen dem Urteilsvermögen eines Anderen unterstellen soll. Aber wenn die Generalkonferenz, die höchste Autorität Gottes auf Erden, eine Entscheidung trifft, dann sollte private Unabhängigkeit und Meinung nicht weiter aufrechterhalten, sondern untergeordnet werden. Dein Irrtum war, dass du deine private Meinung in Bezug auf deinen Auftrag hartnäckig gegen die Stimme der höchsten Autorität, die Gott auf dieser Erde besitzt, aufrechterhalten hast. (...) Entsprechend hast du eine Unabhängigkeit und einen halsstarrigen Geist bekundet, der falsch war.“6 Diese Feststellung macht deutlich, dass die Autorität über das Werk Gottes nicht einer einzelnen Person, sondern der Generalkonferenz anvertraut ist. Doch was genau stellte für Ellen White die „Generalkonferenz“ dar? War damals das Verwaltungsgebäude, der Vorstand oder die Vollversammlung gemeint?
Entscheidungen Einzelner vs. Kollektiventscheidungen
In ihrem Brief an Charles Lee spricht Ellen White negativ über die Ausübung von Autorität durch Einzelne in der Generalkonferenz, während sie kollektive Entscheidungen von Gläubigen positiv darstellt. In ihrem Schriftwechsel mit George Butler wird die gleiche negative Wertung von Entscheidungen Einzelner in der GK deutlich. Schwester Whites Sichtweise wird in den späteren Jahren sogar noch deutlicher, denn in den 1890ern fand eine ungesunde Entwicklung statt: Das Werk breitete sich zwar weltweit immer mehr aus, doch die Entscheidungsfindung ruhte in den Händen Weniger. Deshalb schrieb sie 1891: „Viele Entscheidungen, die getroffen und als die Stimme der Generalkonferenz weitergegeben wurden, waren die Stimmen von einem, zwei oder drei Männern, die die [General]Konferenz irreführen.“7 In diesem Sinne ist auch ihre kritische Aussage im Jahr 1898 zu verstehen: „Es ist schon einige Jahre her, dass ich die Generalkonferenz als die Stimme Gottes angesehen habe.“8 Tadelnd sprach Ellen White daher auf der GK-Vollversammlung 1901 von einer „kingly power“ (Königsherrschaft) und machte deutlich, dass Gott sein Werk nicht durch einzelne Wenige führt.9
Die Konzentration von Autorität in den Händen Weniger führte zu einer Krise und machte eine Reorganisation notwendig. Im gleichen Jahr wurden, zusätzlich zu den vorhandenen Vereinigungen, „Verbände“ (Unionen) eingeführt, um die Verantwortung für die weltweite Freikirche auf weitere Schultern zu legen. Vertreter der Verbände aus den unterschiedlichsten Ländern sollten als Delegierte zur GK-Vollversammlung entsandt werden, um gemeinsam Entscheidungen für das weltweite Werk zu treffen. Ellen Whites Stellungnahme im Jahr 1909 macht noch einmal deutlich, dass es keine Widersprüche bezüglich der Autorität der GK-Vollversammlung gibt. Die Befugnis, Beschlüsse für das weltweite Werk zu treffen, wurde der Vollversammlung von Gott übertragen und hat Auswirkungen auf alle lokalen Gemeinden, Vereinigungen, Verbände und Divisionen: „Ich bin oft vom Herrn unterwiesen worden, dass niemand das Recht hat, von anderen Unterwerfung zu verlangen. Der Verstand eines Einzelnen oder das Urteilsvermögen einiger Weniger reichen nicht aus, über das Werk zu bestimmen und vorzuschreiben, welche Pläne befolgt werden müssten. Wenn jedoch auf einer Generalkonferenz, bei der die Gemeindeglieder aus allen Teilen der Welt versammelt sind, eine Entscheidung getroffen wird, dann dürfen persönliche Unabhängigkeit und eigene Meinung nicht hartnäckig aufrechterhalten, sondern müssen untergeordnet werden. Kein Mitarbeiter darf das beharrliche Aufrechterhalten seiner unabhängigen Position als Tugend ansehen, wenn er damit im Gegensatz zu dem Beschluss der Gesamtgemeinschaft steht.“10
„Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen“.11 Die Freikirche der STA erlebt derzeit eine Krise, die mit der Frage der Autorität verbunden ist. Es gibt Einzelpersonen oder Gebiete in der Welt, die wie Haskell etwas für sich erkannt haben und zügig umsetzen wollen, dabei aber die Gefahr eingehen, die Einheit der weltweiten Gemeinde aufs Spiel zu setzen. Die Gemeinde ist Gottes Augapfel (Sach 2,12) – durch die Liebe zu Jesus Christus und die gemeinsamen Glaubensüberzeugungen weltweit verbunden. Wenn ein Gebiet eine andere Vorgehensweise wünscht, verglichen mit dem Rest der weltweiten Gemeinde, dann muss darüber – wie damals beim Apostelkonzil (Apg. 15) – gemeinsam entschieden werden. Wird diese Entscheidungsfindung von Geschwistern oder Gebieten übersprungen, sodass diese unabhängig von der Weltkirche handeln, nehmen sich einzelne Personen oder Entitäten das Recht und eine Autorität heraus, welche Gott allein der GK-Vollversammlung übertragen hat. Lasst uns deshalb für jede GK-Vollversammlung intensiv beten, damit dort die Bedürfnisse der einzelnen Gebiete wahrgenommen und berücksichtigt werden. So können wir als Gemeinde Entscheidungen treffen, die die Anliegen einzelner Regionen ernst nehmen und die missionarische Arbeit weltweit fördern.
Quellen:
1 Ron Graybill, “The Development in Adventist Thinking on Clean and Unclean Meats“; www.whiteestate.org/issues/Clean-Uncl.html 2 Ellen G. White, Testimonies for the Church, vol. 1 (Mountain View, CA, 1948), S. 207. 3 [James White], “Gospel Order,” Review and Herald, Dec. 6, 1853, p. 173 4 [James White], “General Conference,” Review and Herald, Apr. 28, 1863, p. 172 5 Ellen White, Testimonies, Bd. 3; S. 414 + 433 6 Ellen White, Testimonies, Bd. 3, S.492 7 Ellen White, MS 33, 1891 8 Ellen White, Christus kommt bald, S. 38 9 General Conference Proceedings, S.25 10 Testimonies for the Church, Bd. 9, S. 260; Schatzkammer, Bd. 3, S. 353 11 George Santayana, „The Life of Reason“, Bd. 1, 1905.