Gemeindeleben
„Streitet nicht über Meinungen!“
Weihnachtsbäume, Lieder, Kerzen, Impfung, Ernährungsfragen ... die Liste der Streitthemen in unseren Gemeinden ist vermutlich noch etwas länger. Das Phänomen der langwierigen Diskussion über Nebensächlichkeiten schien bereits Paulus zu beschäftigen, denn in Römer 14 und 15 spricht er genau das Thema an. Welche Schlüsse wir für unser Gemeindeleben daraus ziehen können, und warum die „starke“ bzw. „schwache“ Seite nicht immer so offensichtlich ist – dazu mehr in diesem Beitrag.
Braucht man für etwas vier Stunden, kann man diese Arbeit theoretisch auch in acht Stunden erledigen – je nachdem, wie viel Zeit einem zur Verfügung steht. Das behauptet zumindest Soziologe Cyril Parkinson in seinem Gesetz der Trivialität. Der Brite warf in den 50er Jahren einen humorvollen Blick auf den bürokratischen Alltag und beschrieb, wie zum Beispiel Arbeitsvorgänge auf das Notwendige reduziert werden, wenn die Deadline näher rückt. Ist sie weit weg, kann man sich nebenbei noch einen Snack gönnen, ohne dass man dabei das Gefühl hat, weniger zu arbeiten. Das kennt man. Außerdem sagt Parkinson: Nebensächlichkeiten erfordern viel Zeit, während das, was eigentlich viel Zeit erfordern würde, leider auf der Strecke bleibt. Nun ja, das kennt man auch. Parkinson hätte seinerzeit jedoch auch einfach Römer 14 und 15 zitieren können, wo Paulus genau dieses Phänomen im Gemeindekontext schildert.
Welche Nebensächlichkeiten waren es, über die Gemeindemitglieder damals diskutierten? Man stritt über die Frage, ob man Fleisch essen darf, das im Rahmen von Opferzeremonien toten Götzen geweiht worden war (mögliche Auslegung von Rö 14,2-3, vgl. mit 1Kor 8), ob man auch nach dem Tod Christi gewisse jüdische Feiertage weiter zu halten verpflichtet war (Rö 14,5-6, vgl. mit Kol 2,16) oder ob man sich vor der Mahlzeit den traditionellen rituellen Waschungen unterziehen muss (Rö 14,14, vgl. mit Mk 7,1-22). Und warum stritt man darüber? Weil sich die frühe christliche Gemeinde aus Personengruppen mit den unterschiedlichsten Hintergründen zusammensetzte: Manche waren aus dem Judentum mit seinen strengen Vorschriften zum Christentum konvertiert, andere kamen aus einer eher „liberaleren“ heidnischen Lebenswelt. Kein Wunder, dass dies zu Spannungen führte! Judenchristen neigten dazu, wegen ihres sensiblen Gewissens eine offenere Lebensweise zu verurteilen und ihre alten Glaubensauffassungen auch im christlichen Glauben möglichst umzusetzen und anderen aufzuzwingen, während Heidenchristen mit ironischer Miene auf das geknechtete Leben der „Konservativen“ herabsahen und sich lieber ihrer Heilsgewissheit und Freiheit erfreuten (Rö 14,3).
Paulus ist hier jedoch überdeutlich, wenn er sagt: „[...] lasst uns nicht mehr einer den andern richten.“ (Rö 14,13a) „Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen.“ (Rö 14,1) Welche der beiden Gruppen waren nun die Schwachen in den Augen des Paulus? Er selbst ordnete sich den Starken zu (Rö 15,1) und vertrat dabei die Auffassung, dass man unter gewissen Umständen Götzenopferfleisch sorglos und ohne schlechtes Gewissen verzehren könne (s. 1Kor 10). Vielleicht verwendete Paulus die Begriffe „stark“ und „schwach“ dabei aber deskriptiv (beschreibend), weil jeder sich selbst als stark und die richtige Meinung besitzend, den anderen aber stets als schwach bezeichnen würde. Jedenfalls hatte Paulus zu den genannten Diskussionsgegenständen eine klare Meinung. Ja, er war sogar ein Apostel und war Jesus persönlich begegnet. Seine Auffassung war damit durchaus von größerer Bedeutung.
Bemerkenswert ist aber, dass der „starke“ Apostel Paulus seine Auffassung zu den Diskussionsgegenständen nur als „Meinung“ bezeichnet (Rö 14,1) und deutlich macht, dass gegenseitige Verurteilung oder Überheblichkeit bei Meinungen fehl am Platz sind (Rö 14,3-5). Wohlbemerkt: Hier geht es nicht um durch die Bibel klar definierte Gebote und Prinzipien. Anscheinend gibt es Bereiche, in denen die Bibel Interpretationsspielraum und unterschiedliche Meinungen zulässt. Bei diesen ist laut Paulus nicht entscheidend, was richtig und was falsch ist, sondern ob das, was getan wird, im Blick auf Gott verwirklicht wird (Rö 14,5-6). Und die Beweggründe für das individuelle Handeln vermag nur Gott zu beurteilen (Rö 14,10-12).
Auf der anderen Seite mahnt Paulus auch zur Rücksicht auf die Meinung des Schwachen, weil er befürchtet, dass die diskutierten Nebensächlichkeiten die wirklich wichtigen Dinge im anderen ersticken könnten (Rö 14,13). Liebe als oberstes Gebot (als Hauptsache!) muss als Antrieb für jede Handlung dienen und daher auch die Entscheidung lenken, ob man gewisse Dinge in der Gemeinde ausleben muss, die anderen anstößig erscheinen (Rö 14,15.19-21; 15,1). Wichtig ist aber auch, dass das Ausleben einer Meinung im privaten Rahmen – also außerhalb der Gemeinde – eine Frage des persönlichen Gewissens ist (anders als das Gesetz Gottes). Kann man seine Meinung privat nicht voller Überzeugung ausleben, sollte sie in jedem Fall nochmal im Gebet und an der Bibel überprüft werden (Rö 14,22-23).
Das Beispiel Jesu dient Paulus zur Veranschaulichung (Rö 15,7): Jesus besaß Freiheiten, die er nach dem Sündenfall des Menschen bis an seine Grenze hin hätte ausleben können – was wahrscheinlich auch den Tod des Sünders beinhaltet hätte. Doch was tat er stattdessen? Er „erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ (Phi 2,8) Was wäre, wenn dieses Beispiel bei der Diskussion über Meinungverschiedenheiten stets unser Leitmotiv wäre?
Hand auf’s Herz: Was an unserem Glauben ist wirklich wichtig? Spontan würde ich z.B. antworten: Dass Gott aus Liebe am Kreuz starb, damit Sünder erlöst werden können. Oder: Dass Gottes Gebote seinen Charakter beschreiben und auch mich im Leben leiten sollen. Doch worüber diskutieren wir in unseren Gemeinden? Welches sind die Reizthemen, die es uns wert sind, einander zu verurteilen oder aufeinander herabzuschauen? Themen, bei denen die Anweisungen Gottes vielleicht weniger klar sind, als es die Meinung ist, die vehement vertreten und mit den Geboten Gottes gleichgesetzt wird? Auch wenn sich z.B ein Gemeindeausschuss mancher Diskussion nicht immer entziehen kann, habe ich für mich beschlossen, weniger über Ernährungsfragen, Lieder und Kerzen im Gotteshaus zu diskutieren, damit mehr Zeit für das wirklich Wichtige übrigbleibt. Denn vielleicht würden wir manches weniger lang und breit diskutieren, wenn wir wüssten, wie wenig Zeit wir für die Erfüllung unseres Auftrags tatsächlich noch haben. Und wenn ich dem anderen mal nicht zugestehen kann, in der Gemeinde seine Meinung auszuleben, muss ich mich fragen lassen, ob ich in diesem Moment tatsächlich bereit bin, mich in die Reihen der Schwächeren einzuordnen ...