Die Gefahr eines „wandernden Sabbats“

Kirchengeschichte
Die Gefahr eines „wandernden Sabbats“

Wie Adventisten 1931 eine Kalenderreform verhinderten

Angenommen, die Weltgemeinschaft würde sich auf einen neuen Kalender einigen – einen, bei dem der Sabbat jedes Jahr auf einen anderen Tag fiele. Was wäre, wenn 22 Millionen Adventisten zwar in diesem Jahr den Sabbat am siebten Tag der Woche feierten, nächstes Jahr aber an einem Sonntag, im darauffolgenden Jahr an einem Montag und dann an einem Dienstag usw. Welcher Arbeitgeber würde das mitmachen? Würden nicht hunderttausende Gemeindeglieder ihre Arbeit verlieren?

Genau solch eine Kalenderreform hatte der britische Statistiker Moses Cotsworth (1859-1943) im Sinn. Er argumentierte: Viele buchhalterische und finanzplanerische Aufgaben in Politik und Wirtschaft wären einfacher und billiger, wenn wir 13 gleichlange Monate à vier Wochen, statt zwölf Monate mit einmal 30 und einmal 31 Tagen hätten. Bei einem solchen Kalender, bei dem dann jeder Monat wieder mit einem Sonntag begänne, müssten wir, so Cotsworth, am Jahresende nur einen „weißen“ Tag ohne Wochentagsbezeichnung einschieben (in Schaltjahren sogar zwei), um wieder auf 365 zu kommen.

Nicht wenige Politiker und Geschäftsleute waren begeistert von der Idee. Einer von ihnen, der amerikanische Industrielle George Eastman, Gründer und Inhaber der Eastman Kodak Company, stellte sich hinter die Idee und gewann international weitere einflussreiche Unterstützer in Wirtschaft und Politik. Im Jahr 1928 führte Eastman diesen Kalender in seinem eigenen Unternehmen selbst ein – eine Praxis, die Kodak bis 1982 beibehielt.

Widerstand macht sich breit


Im Jahr 1923 begann ein internationaler Ausschuss unter der Schirmherrschaft des Völkerbundes in Genf, diesen Plan zu studieren. Es folgte die Gründung zahlreicher entsprechender Ausschüsse in den verschiedensten Industriestaaten, die ihre Ergebnisse und Empfehlungen wiederum an den UNO-Ausschuss meldeten. In den Jahren 1928 und 1929 versuchten die Befürworter der Kalenderreform sogar, den amerikanischen Kongress dazu zu bewegen, diesen Plan offiziell zu unterstützen. Das misslang jedoch – auch wegen des Widerstands der Adventisten, die damals weltweit erst rund 300.000 Mitglieder zählten (davon 117.000 in den USA).

Dennoch gelang es den Unterstützern der Reform, das Thema auf die Tagesordnung des Völkerbundes zu setzen. Im Oktober 1931 sollte die „Vierte Generalkonferenz für Kommunikation und Transit“ über das Thema beraten und – so der Plan der Unterstützer – eine entsprechende Empfehlung an die Weltgemeinschaft erarbeiten.

In der adventistischen Weltkirchenleitung war man alarmiert. Glücklicherweise erhielten die STA die Erlaubnis, als Nichtregierungsorganisation (NGO) eine Delegation von vier Personen zu entsenden. Sie sollten Rederecht, aber kein Stimmrecht haben. Und so stellte die Generalkonferenz (GK) ein internationales Team zusammen, das „den satanischen Versuch vereiteln sollte“, so der Historiker Richard Schwarz in seiner Wiedergabe der vorherrschenden Meinung in der Kirchenleitung, „die Loyalität [der Menschen] gegenüber Gott, seinem Gesetz und besonders seinem Sabbattag zu untergraben.“

Zur Delegation, die dann nach Genf reiste, gehörten der GK-Sekretär für Religionsfreiheit C. S. Longacre, der britische Autor und Redakteur Arthur Maxwell (u.a. Autor von Menschen in Gottes Hand) und der australische Evangelist R. A. Anderson. Da keiner von ihnen französisch sprach, damals noch die Sprache der Diplomatie, bat die GK die Südeuropäische Division, eine Person mit entsprechenden Sprachkenntnissen zu empfehlen. So kam ein gewisser Dr. Jean Nussbaum (1888-1967) ins Spiel. Dieser adventistische Arzt stammte aus der französischsprachigen Schweiz, übte seinen Beruf jedoch in Paris aus.

Hilfreiche Begegnungen


Noch vor seiner Abreise aus den USA erfuhr Longacre, dass der Leiter des amerikanischen Wetteramtes, ein gewisser Charles Marvin, eine inoffizielle Delegation der Amerikaner leiten würde. Der Adventist befürchtete nun, dass Marvin in Genf seine Stellung als leitender Regierungsangestellter missbrauchen würde, um seine Meinung als die offizielle Position der US-Regierung darzustellen, obwohl der Kongress eine Entscheidung dieser Art ausdrücklich abgelehnt hatte.

Longacre hatte sich während des Ersten Weltkriegs mit einem Mann namens Herbert Hoover angefreundet. Eben dieser Hoover war nun Präsident der Vereinigten Staaten. Und so bat Longacre seinen alten Freund um Hilfe. Dieser veranlasste seinen Außenminister (Henry L. Stimson) einen Brief zu verfassen, aus dem eindeutig hervorging, dass der Leiter des Wetteramtes in keiner Weise der offizielle Sprecher der US-Regierung sei. Als Marvin tatsächlich seine Rolle missbrauchte, um die Delegierten im Sinne einer Kalenderreform zu beeinflussen, erwies sich dieser Brief als extrem hilfreich.

Auch Arthur Maxwell hatte schon vor seiner Abreise aus Großbritannien eine nützliche Begegnung. Auf Bitten von Joseph Hertz, dem obersten Rabbiner des Landes, besuchte er Sir John Baldwin, den Leiter der britischen Delegation. Bei seinem Gespräch mit Baldwin erklärte Maxwell, warum Juden und Adventisten gegen diese Kalenderreform seien. Die Begegnung sollte sich als extrem hilfreich erweisen, denn bei seiner offiziellen Rede sagte Baldwin später: „Der König des Vereinigten Königreichs wird keine Maßnahme unterstützen, die auch nur einen seiner Untertanen in Gewissensnot bringen könnte.“

Auch wenn Jean Nussbaum nicht mit den Details der geplanten Kalenderreform vertraut war, hatte er doch Erfahrung und ein gewisses Geschick, wenn es um den Umgang mit hohen Regierungsvertretern ging. Sobald die adventistische Abordnung in Genf angekommen war, aber noch vor Beginn der Konferenz, schlug Longacre vor, dass Nussbaum das Gespräch mit dem Leiter der französischen Delegation suche, um diesem bewusst zu machen, dass ein „wandernder Freitag“ mit Sicherheit die Opposition aller Muslime hervorrufen würde und insofern nicht im Interesse Frankreichs sei. Immerhin hatte Frankreich Kolonien in der islamischen Welt sowie zahlreiche Muslime im eigenen Land.

Außerdem entwickelte Nussbaum eine freundschaftliche Beziehung zu dem Leiter der jugoslawischen Delegation. Während des Ersten Weltkriegs hatte Nussbaum nämlich als freiwilliger medizinischer Offizier in Jugoslawien gedient. Während jener Zeit hatte er ein serbisches Mädchen kennengelernt und geheiratet. Sie war jetzt seine Frau. Der Pate dieser Dame war inzwischen der jugoslawische Außenminister. Als ausgerechnet der französische und der jugoslawische Delegationsleiter zu Vizepräsidenten der Konferenz berufen wurden, waren sich Nussbaum und seine adventistischen Kollegen sicher, dass Gott ihnen helfen würde.

Tosender Applaus


Bei Konferenzbeginn beschlossen die Delegierten, dass zunächst die Nichtoffiziellen, also jene Personen ohne Stimmrecht, sprechen sollten. Sie vertraten die verschiedensten Interessengruppen. Zu ihnen gehörten die Adventisten. Da dieser Personenkreis jedoch durch das fehlende Stimmrecht keine wirkliche Macht besaß, zollten ihnen die offiziellen Delegierten kaum Aufmerksamkeit. Die Unruhe im Saal und das zur Schau getragene Desinteresse waren so groß, dass Jean Nussbaum sich im Gegensatz zu seinen Glaubensbrüdern weigerte, ans Rednerpult zu treten.

Als dann die offizielle Debatte begann, gab es zwar Stimmen, die die potentiellen Probleme bestimmter religiöser Gruppen anerkannten, doch einige Delegierte – besonders die Spanier und die Schweizer – griffen die Adventisten für ihre Opposition gegenüber der geplanten Kalenderreform scharf an. Auch der Amerikaner Charles Marvin attackierte die Adventisten vehement. Er verwirrte die Delegierten (unsinnigerweise) mit Problemen in Verbindung mit der Überquerung der internationalen Datumsgrenze.

Marvins Beitrag, so die Überzeugung der Adventisten, durfte nicht unwidersprochen bleiben. Aber wie? Die Redezeit für Nichtregierungsvertreter war vorbei. In dieser Situation wandte sich Nussbaum an den jugoslawischen Vizepräsidenten und wies ihn darauf hin, dass er, Nussbaum, sein Rederecht noch nicht genutzt habe, und dass der amerikanische Angriff auf die Adventisten nach einer Erwiderung durch einen Adventisten verlangte. Ob die Delegierten ihm dieses außerordentliche Recht nicht einräumen sollten.

Der Jugoslawe zögerte. Schließlich hatte die Versammlung eine klare Entscheidung bezüglich der Redeordnung getroffen. Dennoch erklärte er sich bereit, mit mehreren Delegationsleitern zu sprechen. Sollte sich unter ihnen ein Konsens zugunsten der Bitte Nussbaums abzeichnen, wollte er mit dem Konferenzpräsidenten, einem Portugiesen, sprechen. Es stellte sich heraus, dass die Delegationsleiter in Mehrheit bereit waren, dem Wunsch Nussbaums zu entsprechen. Ganz und gar nicht einverstanden war jedoch der Konferenzpräsident – bis er erfuhr, dass Dr. Nussbaum ein persönlicher Freund des jugoslawischen Außenministers war.

Allein schon die Tatsache, dass Nussbaum jetzt unter besonderen Umständen und mit einer Sondererlaubnis ans Rednerpult trat, verhalf ihm zu größter Aufmerksamkeit – eine Aufmerksamkeit, die er sonst mit Sicherheit nie erhalten hätte. Nachdem er die Argumente des Amerikaners widerlegt hatte, schloss er mit einer dramatischen Aufforderung an den Völkerbund, keine Entscheidung zu treffen, die das Gewissen von Minderheiten belasten könnte. Am Ende seiner Rede brach die Versammlung in tosenden Applaus aus.

Zur richtigen Zeit


Trotz weiterer Debatten wurde deutlich, dass Dr. Jean Nussbaum einen entscheidenden Beitrag zur Abwehr der Kalenderreform geleistet hatte. Von den 42 offiziellen Delegierten stimmten am Ende nur drei für die geplante Kalenderreform.

Obwohl eigentlich Arzt, hatte Jean Nussbaum mit diesem Ereignis eine neue Karriere begonnen. Die nächsten 35 Jahre sollte er der wichtigste Vertreter der Siebenten-Tags-Adventisten für die Verteidigung der Religionsfreiheit werden. „Seine Kontakte zu führenden Vertretern von Staat und Kirche auf drei Kontinenten“, so Richard Schwarz, „erwiesen sich als extrem nützlich für jene seiner Glaubensgeschwister, denen Religionsfreiheit versagt wurde. Er entwickelte sich zu einem persönlichen Freund von Papst Pius XII., Eleanor Roosevelt und führenden Vertretern von Staat und Kirche ...“

Ellen White sagte einmal: „Wir haben nichts zu befürchten, außer wir vergessen, wie Gott uns in der Vergangenheit geführt hat.“ Wenn Gott damals zur rechten Zeit die richtigen Personen berufen konnte, um eine Krise für seine Kinder abzuwehren, wird er das nicht auch in Zukunft tun?

Der vorliegende Artikel stützt sich weitgehend auf das Buch von Richard Schwarz,
Light Bearers to the Remnant: Denominational History Textbook for Seventh-day Adventist College Classes, 1979, 517-519.

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