Sexualität
Früher war alles besser!?
Ehe und Sexualität im Wandel der Zeit
Nie war unsere Gesellschaft freizügiger und liberaler als heute. Früher, da hat noch eine gesunde Sexualmoral geherrscht – könnte man meinen. René Gehring enthüllt überraschende Fakten darüber, wie sich sexuelle Werte gewandelt haben, und zeigt nebenbei auf, warum ein unverkrampfter Umgang mit Lust und Liebe sogar biblisch ist.
Die „gute alte Zeit“ war nicht unbedingt so gut, wie man manches Mal meint. Wenn wir zurückdenken, wirkt vieles verklärt und schön. Die Zeiten waren ruhiger, die Menschen freundlicher, die Gesellschaft stabiler – so scheint es. Jedes Geschichtsbuch aber lehrt uns das Gegenteil. Blickt man tiefer in die Keimzelle der Gesellschaft, die Familie, so wird deutlich, dass es hier durchaus Veränderungen zum Negativen gegeben hat: Scheidungen sind wesentlich üblicher geworden, auch in christlichen Kreisen. Lagen die Scheidungsraten bei Katholiken und Protestanten vor 150 Jahren noch bei deutlich unter zehn Prozent, so sind sie heute um ein Vielfaches höher. Ehen werden wesentlich später geschlossen, was zu stark verbreiteter vorehelicher sexueller Aktivität führt. Und überhaupt gibt es weniger verbindliche (eheliche) Partnerschaften.
Andererseits haben sich die Machtverhältnisse in einer Ehe zum Positiven gewandelt. Vergewaltigung oder anderweitige eheliche Gewalt sind nicht mehr straffrei. Eine Scheidung aus schwerwiegenden Gründen ist heute (meist) nicht mehr mit gesellschaftlicher oder kirchlicher Demütigung verbunden. Blickt man etwas weiter zurück, so wird deutlich, dass verschiedenartige Probleme des Zusammenlebens die Ehe schon zu Martin Luthers Zeiten in Verruf brachten: „Aber davon wollen wir am meisten reden, dass der eheliche Stand einen so jämmerlichen Ruf bei jedermann hat. [...] So haben sie beschlossen, dass ein Weib sei ein nötiges Übel und kein Haus ohne solches Übel. [...] Ich halte auch dafür, wenn die Weiber würden Bücher schreiben, so würden sie von den Männern auch dergleichen schreiben. Was sie aber nicht geschrieben haben, das erledigen sie doch mit Klagen und Kläffen, wenn sie beieinander sind.“1 Diese einer Predigt aus dem Jahre 1522 entnommenen Zeilen zeigen, für wie unrühmlich man die Ehe hielt und wie schlecht damals Männer und Frauen übereinander dachten.
Wie Luther weiter erklärte, lag das vor allem an der Meinung, dass Ehelosigkeit heilig, der Ehestand aber sünd- und lasterhaft sei, aufgrund der ehelichen Sexualität. Neben den unangenehmen Pflichten, wie Windelwechseln und Nächte um der Kinder Willen durchwachen, sei doch die Ehe von Gott als etwas durch und durch Gutes eingesetzt und zu einem heiligen Zweck bestimmt: der Fortpflanzung und der charakterlichen Erziehung. Würde man dies recht schätzen, bekäme man Lust, in den ehelichen Stand einzutreten. Fehlt diese rechte (biblische) Sicht, gibt es nichts als Unlust: „Wenn sie inwendig von ihrem [ehelichen] Stand nicht erkennen, dass er Gott gefällt, so ist schon Unlust da. [...] daher denn muss kommen das Zetergeschrei und Schreiben über Weiber und ehelichen Stand.“
Was er beiläufig auch nicht unerwähnt lässt, ist die Tatsache, dass schon in der damaligen Zeit viel zum Thema Sexualität gesagt wurde – wenn auch häufig in anstößiger Weise:
„Ich will aber von der ehelichen Pflicht schweigen [...] Etliche Sauprediger sind ja an diesem Punkt schamlos genug, Schweinereien anzuführen. [...] Es sind viele heidnische Bücher, die nichts als der Weiber Laster und des ehelichen Standes Widerwärtigkeiten beschreiben, so dass etliche gemeint haben, wenn die Weisheit selbst ein Weib wäre, sollte man dennoch nicht freien.“
Das Zeitalter der Erotik und Pornografie
Der wirkliche „Durchbruch“ in diesem Bereich der beschriebenen oder gezeichneten Sexualität, und damit dessen, was wir heute als Pornografie bezeichnen, kam aber erst später. Wenn dieses Laster auch durchaus schon in der Antike und letztlich seit Menschengedenken verbreitet war, wie Höhlenmalereien und bis heute erhaltene antike Sexspielzeuge belegen, wurde es doch erst in der Neuzeit gesellschaftsfähiger.
Durch die aufklärerische Aufweichung der vormals rigorosen Sexualethik wurde Pornografie im 18. Jahrhundert immer präsenter. Mancher Historiker bezeichnet das Zeitalter der Philosophen gar als Zeitalter der Erotik und Pornografie. Es entstand eine Art Schwarzmarkt für erotische Literatur, der große Summen umsetzte. Dazu gehörte auch Literatur, die man heute nicht mehr unbedingt als pornografisch bezeichnen würde, da sie vielmehr medizinisch-anatomische „Ratgeber“ im Bereich der Sexualität darstellte – dabei aber bewusst gängige Tabus brach und nicht selten vulgär formulierte. Da man über diesen Bereich des ehelichen Lebens und des Menschseins schlechthin nicht offen sprechen konnte, blühte die Literatur, die dieses Schweigen ausfüllte.
Interessanter aber ist für uns die Sexualmoral im sogenannten „viktorianischen Zeitalter“ (1837-1901), da unsere Kirche in eben dieser Zeit entstand und groß wurde. Manche Historiker sehen diese Epoche mit ihren moralischen Standards nicht schon mit dem Tod der Namensgeberin (König Viktoria I. von England) im Jahre 1901 enden, sondern führen sie weiter bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Denn auch in den 1950er Jahren gab es noch die strikten viktorianischen Rollenbilder und eine entsprechend rigide Sexualmoral. Sitte und Ethik der viktorianisch (und durchaus auch puritanisch) geprägten Zeit zeichneten sich durch eine hochentwickelte Doppelmoral aus. Einerseits wahrten die vornehmen Damen und Herren nach außen eine steife und bis ins Detail ausgearbeitete Etikette. Eine Vielzahl an gesellschaftlichen Tabus musste tunlichst gemieden werden. Der Umgang zwischen den Geschlechtern war in einer erdrückenden Weise reglementiert bzw. untersagt. Andererseits wurde die hierdurch erzwungene und auch im ehelichen Schlafgemach erwartete sexuelle Prüderie durch eine ausufernde Prostitution und mehr oder weniger offen geduldete Mätressen- bzw. Konkubinatsverhältnisse als Irrweg entlarvt.
Dass die Polizei im viktorianischen London im Jahre 1859 dreitausend Bordelle zählte, mit etwa achtzigtausend Prostituierten, spricht Bände über die Sexualmoral bzw. sexuellen Missstände der damaligen Zeit. In Frankreich, dem Land der Revolution und atheistisch geprägter Moral, waren die Zustände nicht besser. Auch in den puritanisch geprägten USA zeigte sich dieser Trend, obgleich gemildert durch die dort noch vorherrschende christliche Ethik, die sich in Europa im Zuge der Aufklärung in starker Auflösung befand. Die sogenannten „Freudenmädchen“ galten als die Profis, während die Ehefrau daheim sich im Bereich der Sexualität eher frigide und „sittsam“ verhalten sollte. Damit waren aber weder die emotionalen Bedürfnisse der Ehemänner noch die der Ehefrauen erfüllt, was die ausufernden außerehelichen Aktivitäten erklärt.
Parallel hierzu entwickelte sich eine Flut an Literatur, die die Sexualität an sich – egal in welchem Rahmen – als physisch wie seelisch schädlich bewertete und streng davon abriet. Die Körperkraft des Menschen, der in diesem Zeitalter der industriellen Revolution als biologische Arbeitsmaschine betrachtet wurde, musste bewahrt werden. Jeder sexuelle Höhepunkt würde die Lebenskraft so stark mindern, dass unweigerlich ein frühzeitiger Tod zu erwarten wäre. Der größte Feind einer gesunden Gesellschaft wurde die „einsame Lust“ (Selbstbefriedigung) und einzig positiver Aspekt der Sexualität blieb die Zeugung von Kindern.
Verhütung und Lust ohne Reue
Gegen Ende dieser von Doppelmoral gezeichneten Epoche tritt eine neuartige Trennung von sexueller Lust und Fortpflanzung immer offener zutage. Die vielfältigen Leiden der allzu kinderreichen Familien jener Zeit führen zu einer immer breiteren Akzeptanz von Verhütungsmitteln. Kannte man vormals nur wirkungslose oder manches Mal gar medizinisch gefährliche Mittel der Verhütung, so wurde 1855 schließlich das erste Gummi-Kondom erfunden. Der Verkauf war streng reglementiert, und das Produkt wurde nur an Verheiratete abgegeben. Trotz der damals noch zwei Millimeter dicken Nähte stiegen die Verkaufszahlen so an, dass schon 1870 die Serienproduktion begann.
Die wirkliche sexuelle Revolution, der unsere heutige Gesellschaft ihre Sexualmoral verdankt, setzte aber erst circa hundert Jahre später mit der Veröffentlichung des Kinsey-Reports in den USA ein. 1948 erschien der erste Band über das Sexualverhalten des Mannes. 1953 kam dann jener über die Frauen heraus und hatte die gesellschaftliche „Wirkung einer Atombombe“ (Time-Magazine, August 1953). Die von dem Biologen Dr. Alfred Kinsey durchgeführten und äußerst nüchtern-sachlich katalogisierten Sexualpraktiken waren nun erwiesenermaßen jenseits von Gut und Böse – gemessen an den streng konservativen Moralvorstellungen der damaligen Zeit.
Als 1960 die Pille als zuverlässiges und äußerst leicht anwendbares Verhütungsmittel „Lust ohne Reue“ möglich machte, war der auch von politischer Aufbruchstimmung getragenen „Freie Liebe“-Bewegung der Hippies in den 1960er und -70er Jahren Tür und Tor geöffnet.
In Deutschland kam es nur wenige Jahre nach Zulassung der Pille (1961) zu einer Änderung des sogenannten Porno-Paragrafen. 1969 wurde §184 des Strafgesetzbuches geändert, der bislang sowohl die Herstellung und Verbreitung von Pornografie als auch sexuell unmoralisches Verhalten wie Ehebruch, außerehelichen Geschlechtsverkehr und Homosexualität unter Strafe stellte. Der Bundesgerichtshof strich im sogenannten „Fanny-Hill-Urteil“ all diese bisherigen Straftatbestände mit der Begründung, dass „das Strafgesetz nicht die Aufgabe hat, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen, sondern es hat die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen und groben Belästigungen zu schützen“ (BGHSt 23,40,43f.).
Dieser Vorgang in Deutschland entspricht der sexuellen Liberalisierung in anderen Ländern des westlichen Kulturkreises und führte zu einer regelrechten Pornografie-Schwemme, die in den 1970er und -80er Jahren zu einer Vielzahl von Erotikkinos, entsprechenden Geschäften und Verleihen führte. Die Umsätze waren enorm, das Interesse auch der im Grunde biederen Durchschnittsbürger geweckt. Einstiegsfilme wie der „Schulmädchen-Report“, der sich bewusst leidenschaftslos und mit vielen Interviews gespickt den Anstrich einer wissenschaftlichen Dokumentation geben wollte, war durch seine erfundenen Erotikgeschichten so erfolgreich, dass unglaubliche 13 Teile gedreht wurden.
Sexualisierung der Gesellschaft und was die Bibel uns lehrt
Die drastischere Pornografie der 1990er Jahre und die inzwischen allgemeine Verfügbarkeit via Highspeed-Internet führten zu einer wesentlich stärkeren Sexualisierung der Gesellschaft, als es noch in den blühendsten Zeiten der Film- und Kinopornografie der Fall war. Inzwischen werden Jugendliche, und bisweilen auch Kinder, eher durch Pornografie „aufgeklärt“ als durch Eltern oder Schule, wie neuere Umfragen zeigen. Dass diese meist schon altersmäßig sehr frühe Überreizung im Bereich Sexualität neben seelischen Problemen auch zu körperlichen Störungen insbesondere bei der Hauptkonsumentengruppe der jungen Männer führt, wurde in den letzten zehn Jahren deutlich. Urologen stellen international fest, dass Männer im besten Alter bereits unter Impotenz leiden. Der Reiz einer echten Frau in einem gewöhnlichen Umfeld ist für viele zu gering, da die pornografische Reizüberflutung zur sexuellen Desensibilisierung führt. Einige Wochen oder wenige Monate ohne Pornografie können die normalen Verhältnisse und damit physische Gesundheit wiederherstellen. Das Suchtpotenzial der Pornografie aber macht dies für viele Männer zu einer schwer durchführbaren Option.
Hier hat sich viel geändert. Galt zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch die frei sichtbare Wade und mancherorts schon der Knöchel einer Frau als pornografisch, oder war es im viktorianischen 19. Jahrhundert nicht möglich, über Unterwäsche oder einfach Damenstrümpfe zu sprechen, ohne verabscheuende Blicke auf sich zu ziehen, ist die Gesellschaft heute zumindest im medialen Kontext derart freizügig, dass selbst starke sexuelle Reize wie ein nackter Körper mitunter keine große Aufregung mehr erzeugen kann.
Was sollten wir als Christen aus diesem kleinen Rück- und Einblick in den Umgang mit Sexualität in Geschichte und Gegenwart lernen? Biblisch steht fest, dass es verwerflich ist, eine Frau (oder einen Mann) nur als Sexobjekt zu betrachten (1. Thessalonicher 4,5). So ist auch Matthäus 5,28 zu verstehen. Die Warnung vor dem Begehren einer anderen Frau bedeutet nicht, dass die natürliche ästhetische Faszination schon Sünde sei – das Weiterentwickeln der Gedanken hin zum gedanklichen Ehebruch wird erst sündhaft. Dass dies in der Geschichte aber auch auf die eheliche Beziehung übertragen und die Lust an sich als Sünde gebrandmarkt wurde, ist unbiblisch.
Eines muss trotz aller widersprechenden Meinungen der heutigen Beliebigkeit und trotz aller Verunsicherung der heutigen und früheren Zeit unerschütterlich stehenbleiben: Das Interesse am anderen Geschlecht ist von Gott gegeben und gewollt. Die Lust auf Sex ebenfalls. Sie muss aber von Verstand und Gewissen beherrscht werden.
Der schöne Anblick einer (nackten) Person des anderen Geschlechts fand schon im Paradies, noch vor dem Sündenfall, seinen begeisterten Ausdruck (1. Mose 2,23) und sollte uns auch heute noch an unserem Ehepartner faszinieren und begeistern. Nacktheit an sich ist nicht sündhaft (1. Mose 2,25) – wenn sie im richtigen (ehelichen) Rahmen genossen wird. Die Freude über den Körper des Ehepartners und der Genuss desselben sind nicht unheilig (Hohelied 4; Hebräer 13,4 wörtlich: „Die Ehe ist ehrbar in allem und der Koitus rein.“) Eine leidenschaftslose Ehe oder gar ein Verzicht auf Sexualität mit der vermeintlichen Absicht, eine gesteigerte Heiligkeit zu erreichen, sind vor Gott nicht rechtens und werden sogar als Raub am Ehepartner bezeichnet (1. Korinther 7,2-5; 2. Mose 21,10-11).
Die heutige sexuelle Überflutung macht es manchmal schwer, den rechten Blick zu bewahren. Trotz aller Fehlentwicklungen in Geschichte und Gegenwart ist Sexualität etwas Heiliges, Wertvolles, für eine eheliche Beziehung Unabdingbares, wenn sie dauerhaft sein und nicht zu einer bloßen Wohn- und (bei Kindern) Erziehungsgemeinschaft verkümmern soll. Daher sollte auch dieser wichtige menschliche Bereich mit entsprechender Dankbarkeit aus Gottes Hand angenommen und genossen werden. Entsprechend positiv und offen sollte auch in unseren Gemeinden damit umgegangen werden, damit unseren Kindern und Jugendlichen bewusst ist, dass die Gemeinde nicht nur Warnungen und Verbote in diesem Bereich kennt.
INFO:
Einladung zum ATS-Symposium auf dem Michelsberg
vom 9. bis 11. Oktober 2020
Thema: "Multioptionsgesellschaft - Beziehungen und Sexualität im Wandel der Zeit"
Sprecher: Richard Davidson, René Gehring, Martin Pröbstle
Informationen und Anmeldung: www.ats-info.de
Quellen:
1Die folgenden Lutherzitate stammen aus: Martin Luther, „Vom ehelichen Leben“, in Und sie werden ein Fleisch sein. Martin Luther und die Ehe, herausgegeben von Volkmar Joestel und Friedrich Schorlemmer (Wittenberg: Drei Kastanien Verlag, 2007), 23-27.