Der Kapitän geht von Bord

Lebensgeschichte
Der Kapitän geht von Bord

Erhard Birós Leben und Dienst für die Gemeinde

Ein besonderer Tag in der Historie der Adventbewegung in Europa war er allemal, dieser 19. September 1955. Ob damals über dem kleinen Städtchen Reghin (oder „Sächsisch-Regen“, wie es auf Deutsch hieß) in Siebenbürgen die Sonne schien oder ein bedeckter Himmel bleiern hing, ist nicht mehr so eindeutig zu klären. Doch was sich dort ereignete, hatte Auswirkungen, die bis heute noch im fernen Baden-Württemberg wahrzunehmen sind. An jenem Tag erblickte in Reghin Erhard Franz Biró das Licht der Welt. Die Stadt mit rund 30.000 Einwohnern war schon die Heimat seiner Mutter Erna gewesen und wurde langjähriger Wirkungsort seines Vaters Franz Biró, der von dort aus als Pastor ungarische Adventgemeinden in der Umgebung betreute.

Erhard war das erste von vier Kindern, die dem Predigerehepaar Biró geboren wurden. Zwei Schwestern, Esther und Christine, und ein Bruder, Reinhold, vervollständigten schließlich das Quartett. Zu Hause sprach man deutsch und ungarisch, im Umfeld und in der Grundschule rumänisch. Dass Erhard in eine gläubige Familie hineingeboren wurde, war beim Beruf des Vaters eigentlich selbstverständlich. Dass er aber schon als Zwölfjähriger den Vater oft bei seinen Reisen in andere Adventgemeinden begleiten durfte, war sein großes Vorrecht als Erstgeborener. Denn in dieser Zeit wuchs in seinem Herzen nicht nur die tiefe Liebe zur Adventwahrheit, sondern auch der Wunsch, selbst einmal solch ein Prediger wie sein Vater zu werden. Vater war nämlich ein sehr guter Pastor, geschätzt und geliebt von seinen Gemeinden und gefürchtet und gehasst von den Beamten der Securitate, dem damaligen rumänischen Geheimdienst.

Geheime Pastorentagungen im Karpatenwald

Was Unterdrückung, Verfolgung, Ausgrenzung und Diskriminierung bedeuten und wie sie sich anfühlen, lernte der kleine Erhard schon, noch ehe er die Worte dafür kannte. Wie oft war etwa der Vater vom Geheimdienst abgeholt oder vorgeladen worden, wie oft hatte er sich verabschiedet, weil man nie sicher sein konnte, ob er jemals wieder nach Hause zurückkehren würde ... So war der Junge in einer Zeit der kommunistischen Diktatur von Kind an gewohnt, zu einer diskriminierten, ja, verfolgten Minderheit zu gehören, für die Wahrheit einzustehen und, wenn nötig, auch zu kämpfen und zu leiden. Er kannte all die Strategien passiven Widerstandes, die Vorsicht, auf jedes Wort zu achten, die absolute Verschwiegenheit – alles nicht unwichtige Eigenschaften für seine künftigen Aufgaben. Aber er erlebte auch die Schönheiten und berührenden Momente des Predigerdaseins. Denn wenn unser Gott sich seine Boten und Diener zubereitet, dann überlässt er dabei offenbar nichts dem Zufall, sondern plant in weiser Voraussicht, welche Charaktereigenschaften später gebraucht werden.

Pastor zu sein unter der Diktatur eines Nicolae Ceaușescu in Rumänien war gewiss nicht leicht. In einer der entlegensten Ecken der Karpaten machten die wenigen adventistischen Mitarbeiter in Rumänien hin und wieder „Urlaub“. In Wirklichkeit trafen sie sich dort aber zu geheimen Predigertagungen, da die offiziellen nur in Gegenwart von Securitate-Mitarbeitern gestattet waren. Während die Pastoren ihre Probleme austauschten, beschäftigte sich einer von ihnen mit den Kindern und erzählte ihnen Geschichten von Glaubenshelden, u.a. über die Waldenser. In der Abgeschiedenheit der Bergwälder gelobten die Kinder damals den „Waldenser-Eid“: „Wir wollen die Fackel der Adventbotschaft weitertragen.“ Auch das durfte Erhard manchmal miterleben. Wie man meist bis spät in die Nacht draußen am Lagerfeuer zusammensaß, um die allgemeine Lage der Adventisten unter der kommunistischen Herrschaft zu besprechen, und wie man dennoch dem Auftrag Gottes treu bleiben wollte.

Nicht nur im Glaubensleben, auch in der Schule galt es für den jungen Erhard Hindernisse zu überwinden. Nach vier Jahren Grundschule besuchte er das Gymnasium 1967 bis 1974, wo in Ungarisch unterrichtet wurde. Es gab nur wenige Gymnasien, die in Ungarisch unterrichteten. Solch eine Schule besuchen zu dürfen, wäre für ihn ein Vorrecht gewesen. Doch weil er sabbats stets dem Unterricht fern blieb, verzichtete er auf diesen Vorzug und begann stattdessen zu arbeiten. Denn eine Abendschule, bei der man das Abitur nebenher im Abendstudium erwerben konnte, stand nur Arbeitern zur Verfügung. So arbeitete er tagsüber und ging abends zur Schule.

Wunsch nach Freiheit

Trotz der äußerlichen Unterdrückung war seine Kindheit auch froh und heiter. Als ältester Sohn lernte er schon früh, Verantwortung zu übernehmen und nahm daheim allerlei Pflichten wahr. Familie Biró besaß, wie auch alle anderen im Ort, verschiedene Tiere. Wenn es z.B. darum ging, ein Huhn zu schlachten, bekam er den Auftrag dazu. Er hatte schon vielen Hühnern den Kopf mit einem Beil abgehackt. Einmal war ein Truthahn an der Reihe. Und weil seine Schwester unbedingt sehen wollte, wie er den großen, kräftigen Vogel schlachtet, ließ er sie zuschauen. Er hielt das schwere Tier mit der einen Hand so, dass der Kopf des Hahns auf dem Hackstock zu liegen kam, und trennte mit einem gezielten Axthieb den Kopf vom Körper. In diesem Moment riss sich der Truthahn los und rannte – kopflos, wie er nun war – hinter der schreienden Schwester her.

Kuriose, aber auch lustige Geschichten wie diese waren vor allem die Spezialität von Erhards ein Jahr jüngerer Schwester Esther. Die kleine Schwester erzählte ihrem älteren Bruder oft selbst erfundene Geschichten und Märchen. Wenn er sie bat: „Erzähl mir doch mal eine Geschichte!“, begann sie stets mit den Worten: „Es war einmal ein kleiner Junge ...“ Neben fesselnden Erzählungen spielte auch Musik im Hause Biró wie auch in den ungarischen Gemeinden eine wichtige Rolle. Es wurde viel gesungen und musiziert. Die Geburtsstadt Reghin ist auch als „Oraşul Viorilor“, als Stadt der Geigen, bekannt, weil dort die landesweit größten Werkstätten für den Bau von Geigen angesiedelt sind. Erhard lernte also Geige zu spielen, die er schon bald sehr gut beherrschte. Sein musisches Talent zeigte sich daneben auch in seiner Vorliebe für ungarische Literatur, besonders für Poesie und Lyrik. Überhaupt war Lesen seine große Leidenschaft! Wenn er nirgends mehr zu finden war, saß er gewiss auf dem Heuboden und schmökerte.

Die ständige Unterdrückung förderte seinen großen Wunsch nach Freiheit. Er wollte ausreisen, am liebsten nach Deutschland. Und er wollte Prediger sein, aber in Freiheit und nicht unter diesem kommunistischen Regime. 1974 war es endlich soweit. Zusammen mit seinem Vater erhielt er ausnahmsweise die Genehmigung, zu einem Besuch nach Österreich zu fahren. Aber die beiden kehrten nicht mehr zurück, sondern gingen von dort über die Grüne Grenze und gelangten so nach Deutschland, geradewegs nach Darmstadt. Denn dort befand sich das Missionsseminar Marienhöhe, wo sich die Möglichkeit ergab, Pastor zu werden. Ohne seine geliebte Familie zwar, in einem fremden Land und nahezu mittellos, aber endlich frei ... frei, um selbst zu entscheiden und sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Weil er keine halben Sachen machen wollte, nahm er jetzt auch die Möglichkeit wahr, seine Zukunft in die Hand seines Herrn zu legen und fortan ihm ganz zu gehören. In diesem Jahr, am 29. November 1974, fiel daher sein Entschluss, sich taufen zu lassen.

Wieder vereint

Erhard begann also 1974 mit seinem Theologiestudium auf der Marienhöhe. Nur ein Jahr später wagte er sich zu einem Besuch seiner Angehörigen nach Rumänien zurück. Gott bewahrte ihn davor, dort verhaftet und gefangen genommen zu werden. Nach einem weiteren Jahr erhielt dann sogar die ganze Familie Biró die Genehmigung zur Ausreise. 1976 kamen sie nach Deutschland und waren nun als Familie endlich wieder vereint.

Trotzdem war es für Erhard eine schwere Zeit: Er musste noch besser Deutsch lernen. Dazu bekam er während seines Studiums noch eine schwere Hepatitis und war monatelang krank. In seinem zweiten und dritten Studienjahr lag er zwei Mal auf dem Operationstisch: Leber-Blind-Punktion – ein sehr schmerzhafter Eingriff! Einmal wurde er dabei sogar vergessen (s. Editorial in BWgung 1/2018) ... Trotz der massiven Unterrichtsausfälle schrieb er seine Prüfungsarbeit zum vorgegebenen Termin und wurde rechtzeitig fertig. Es war ein Wunder. 1978 schloss er das Predigerseminar nach vier Studienjahren erfolgreich ab. Eine Zeit, in der sich auch in Herzensangelegenheiten so manches ergab: Im Sekretariat der Ausbildungsstätte arbeitete nämlich eine hübsche, tüchtige junge Schwester, die ihm als Student immer wieder begegnete, wenn bürokratische Anliegen zu erledigen waren. Schließlich lernten sich die beiden so gut kennen, dass sie beschlossen die Zukunft miteinander zu teilen. Seitdem ist sie die Frau an seiner Seite. In dem Jahr, in dem Erhard sein Studium mit Erfolg abgeschlossen hatte, heiratete er Elke (geborene Muschong). Inzwischen haben sie nun schon seit dem 9. Juni 1978 vierzig Ehejahre hinter sich. Drei Kinder wurden ihnen geschenkt: Harmen (1980), Patja (1982) und Jared (1991) – mittlerweile gehören auch zwei Enkel zur Familie.

Mit ganzem Herzen und ganzer Seele

Die unerschütterliche Gewissheit seiner Berufung gab Erhard den Mut, durch all die Jahre seines Dienstes dem Auftrag seines Herrn treu zu bleiben. Es waren Jahre des Wachsens und Reifens, Jahre der Freude und Jahre hoher Belastungen. Erhard Biró begann sein Wirken als Pastor in der Gemeinde Pfalzgrafenweiler, dazu kam dann noch Freudenstadt. Nach seiner Ordination im Jahr 1983 war er im Bezirk Offenburg/Lahr/Kehl tätig. Die Vielzahl der Nöte und Aufgaben in den Gemeinden seines Bezirkes erforderten es, dass er oft bis an den Rand seiner Kräfte arbeitete. Doch der Herr segnete seinen Einsatz: Zahlreiche Taufen und wachsende Gemeinden waren die Folge. Die Wertschätzung, Hochachtung, ja, die Liebe seiner Gemeinden wurde ihm reichlich zuteil, auch wenn er aufgrund der vielen Probleme seiner Herde bei Tag und manchmal sogar bei Nacht aufgesucht wurde. Als nun schon erfahrener Mitarbeiter wurde Erhard 1988 nach Stuttgart, zur größten Gemeinde der Vereinigung, gerufen. Seelsorgedienst in Großstadtgemeinden ist stets eine besondere pastorale Herausforderung, doch unter dem Segen Gottes nahm er sich auch dieser Aufgabe verantwortungsvoll an.

Neben der innigen Beziehung zu seinem Heiland ist es vor allem die Liebe zu Menschen, die ihm die Herzen zufliegen lässt – eine Liebe, die auch vor jenen keinen Halt macht, die ihm nicht immer freundlich gesinnt sind. Erhard bemühte sich stets, die Gemeinden im Geist Jesu zu führen, grundsatztreu und in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes. Dabei war und ist er – im besten Sinne des Wortes Seelsorger – jemand, der heilt und verbindet, nicht verletzt oder kritisiert, auch dann, wenn er unangenehme Tatsachen ansprechen muss. Erhard war Pastor mit ganzem Herzen und ganzer Seele.

Kein Wunder also, dass die Landesversammlung der Baden-Württembergischen Vereinigung ihn 1994 zum Vereinigungssekretär als Stellvertreter des Vorsitzenden berief. Wurde er als offizieller Vertreter der Leitung der Freikirche zu schwierigen Verhandlungen oder kritischen Gemeindeversammlungen geschickt, so war immer auf ihn Verlass und sein Vorsteher konnte sicher sein, dass er keine andere Stellung vertrat, als wäre der Vorsitzende selbst dort anwesend gewesen. Was Erhard auszeichnete, war seine menschliche Wärme und seine geistliche Haltung, die in den verwaltungstechnischen Abläufen einer Dienststelle, in der das Papier zuweilen eine umfangreichere Stelle als der Mensch einnimmt, nicht selbstverständlich ist.

Auf der Suche nach Perlen

Erhard Birós organisatorische Fähigkeiten gepaart mit seiner seelsorgerlichen Leidenschaft bewogen die Delegierten, ihm 1996 die Leitung der Freikirche in Baden-Württemberg zu übertragen. Mit überwältigender Mehrheit wurde er in der Folgezeit immer wieder gewählt. Unvergessen bleiben zahlreiche geistliche Höhepunkte dieser 22 Jahre: Vollmächtige Verkündiger, samt Chor und Orchester, machten jede Vereinigungskonferenz zu einem besonderen geistlichen Event. Auch der Youth-in-Mission Congress wurde ins Leben gerufen, zu dem seit nunmehr zwölf Jahren jedes Mal über tausend Jugendliche teilnehmen. Dazu kommen die vielen Neuerungen, die eingeführt wurden: Der Umbau und die Erweiterung der Vereinigungsdienststelle. Ab September 2007 die Herausgabe eines zweimonatlichen Mitteilungsblattes mit dem Titel BWgung, die Anstellung verschiedener Fachkräfte für Verwaltung, Kommunikation, Ehe- und Familienfragen, die Arbeit unter speziellen Bevölkerungsgruppen, Gemeindeschulen und Bildung, Frauendienste und Sozialarbeit.

Wie der Kaufmann im Gleichnis Jesu, der gute Perlen suchte (Matthäus 13,45-46), hielt auch Erhard immer wieder Ausschau nach treuen, begabten und begeisterten jungen Mitarbeitern, um sie in den Dienst der Gemeinden hierzulande zu berufen. Mit seinen Mitarbeitern unternahm er Studienreisen in die Waldensertäler, nach Kleinasien zu den „sieben Gemeinden“ und schließlich auch nach Israel. Bei seinen zahlreichen Dienstreisen innerhalb Deutschlands schlitterte er einmal haarscharf an einem gefährlichen Unfall vorbei, als ein unaufmerksamer Verkehrsteilnehmer plötzlich die Fahrspur wechselte und den Wagen, in dem Erhard saß, bei hoher Geschwindigkeit zu einem abrupten Steuermanöver zwang, welches sein Fahrzeug ins Schleudern brachte. Sekunden später, als sie auf dem Seitenstreifen zum Stehen kamen, sagte Erhard zu seinem Begleiter: „Das hätte unser letzter Augenblick sein können.“ Da Erhard jeden Tag als Geschenk Gottes empfand, wurde es zu seiner Gewohnheit, jeden Morgen bewusst mit seinem Schöpfer zu beginnen. Ja, Weisheit beweist sich auch darin, dass man jederzeit mit der Ewigkeit rechnet …

Mit beispielhafter Bescheidenheit verlangte Erhard Biró von seinen Mitarbeitern nie mehr, als er selbst zu leisten bereit war, und packte dort mit an, wo es eng wurde. Unangenehme Aufgaben und schwierige Probleme machte er grundsätzlich zu seiner Sache und schob sie nicht an andere ab. Sein liebevolles Entgegenkommen ist immer dem Nächsten zugewandt und hat dessen Heil im Blick. Wer jedoch versucht, ihn mit fragwürdigen Begründungen zur Aufgabe einer bibelgetreuen Haltung zu bewegen, wird auf Granit beißen.

Abschied nach vierzig Dienstjahren

Dass Erhard so lange die Vereinigung führen durfte, wurde für die Adventgemeinden in diesem Bundesland zu einem großen Segen. Das erkannten auch all die Abgeordneten aus den Gemeinden, die jedes Mal über seine Wiederwahl zu entscheiden hatten. Jetzt aber gebietet eine andere Instanz, der niemand widersprechen kann: die Zeit. Die Zeit seines unermüdlichen Einsatzes im aktiven Dienst endet nun mit Ablauf dieses Jahres. Welch ein Segen hat seinen Dienst begleitet! 

Der Kapitän geht nun von Bord. Nach über vierzig Dienstjahren, davon 22 Jahre als Präsident der Baden-Württembergischen Vereinigung, ist nunmehr die Zeit gekommen, Erhard Biró in den Ruhestand zu verabschieden. Nicht weil seine Führung zur Routine verkommen wäre, nicht weil ihm die Gedanken und Ideen ausgegangen sind. Aber weil die Uhr unseres Lebens eben nicht stehen bleibt. Deshalb darf er nun in den wohlverdienten Ruhestand wechseln. Wobei schon jetzt klar sein dürfte, dass jemand, der so innig mit der Sache Gottes verbunden war wie er, wohl kaum sein Rentnerdasein im bequemen Clubsessel verbringen wird. Aber die Last der Verantwortung darf er nun in andere Hände legen. Die Zahl und Schwere der Probleme und Krisen, mit denen die Freikirche ringen muss, solange sie noch hier auf Erden ist, wird sich gewiss nicht verringern. Aber jeder treue Nachfolger darf gewiss sein, dass auch die „Pforten der Hölle“ (Mt 16,18) diese Bewegung nicht auslöschen werden. Christus, unser Lotse, wird das Schiff sicher ans Ziel bringen. Er und seine Wahrheit werden am Ende den Sieg behalten.

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