Soziales
Über Feuer, Glaube und Radieschen
Ein Jahr mit ADRA im bolivianischen Kinderdorf
„Fuego! Fuego!“ schrie einer unserer Jungs, während er aufgeregt ins Haus gerannt kam. Mein Freund Caleb und ich schauten uns an – so viel Spanisch verstanden wir mittlerweile: Es brannte! Wir stürmten hinaus und sahen bereits die Rauchschwaden oben am Berg. Das Feuer kam immer näher, direkt auf das Kinderdorf zu. Polizei und Feuerwehr wurden informiert, doch die schienen sich nicht wirklich für unser Problem zu interessieren ... Also mussten wir die Sache selbst in die Hand nehmen: Mit Ästen und Hacken, die wir normalerweise zum Gärtnern benutzten, versuchten wir die Flammen auszuklopfen. Mittlerweile packten außer uns Volontären auch ältere Kinder und einige Dorfbewohner mit an. Obwohl das Feuer im nahegelegenen Wald vormittags ausgebrochen war, beschäftigte uns die Löschaktion unter Einsatz von dreißig Mann noch bis kurz vor Mitternacht. Am nächsten Morgen bedeckte schwarze Asche den gesamten Berg – die Flammen waren bis etwa zwei Meter vor unsere Haustür gewandert. Doch außer ein paar verbrannten Haaren auf dem Kopf war niemandem etwas passiert. Gott hatte uns vor dem Schlimmsten bewahrt!
Die Erfahrung, dass wir einem großen Gott dienen, für den nichts unmöglich ist, durfte ich während meines zwölfmonatigen Aufenthalts in Bolivien immer wieder machen. Nach meinem Abschluss an einem Technischen Gymnasium hatte ich die Nase voll von Schule, lernen und Technik. Ich wollte den Komfort hinter mir lassen, praktisch arbeiten, Kindern helfen und Jesus näherkommen. Da ich kein Spanisch kann, hatte ich nicht vor, nach Südamerika zu reisen. Doch die Verantwortlichen von ADRA Deutschland waren trotzdem der Meinung, dass ich dort gut aufgehoben wäre. Und sie behielten Recht!
Das adventistische Kinderdorf „Fundación El Sauce“, zu dem mich die Hilfsorganisation schickte, wurde vor etwa acht Jahren von einem Schweizer gegründet; geleitet wird es von einheimischen Südamerikanern. Es liegt etwas außerhalb von Samaipata, einer kleinen Stadt im östlichen Andengebirge auf einer Höhe von 1.646 Metern. 25 Kinder leben dort zusammen mit meist neun freiwilligen Helfern. Das Kinderdorf hat eine eigene Grundschule und ist in drei Häuser aufgeteilt, in denen Jungen und Mädchen zwischen 5 und 18 Jahren sowie Teenager mit ihren Babys ein Zuhause gefunden haben. Während die jungen Mütter die Schule besuchen, passen die Betreuer auf ihre Kleinen auf. Die meisten Bewohner des Heims haben eine tragische Vergangenheit: Manche wurden zu Hause misshandelt und landeten nach ihrer Flucht auf der Straße. Andere sind Vergewaltigungsopfer oder wurden als Baby in einem öffentlichen Mülleimer gefunden, woraufhin der Staat sie in dem Kinderdorf unterbrachte.
Kirschgroße Radieschen
Um sich selbst zu unterhalten, bewirtschaftet das Kinderdorf auf dem hundert Hektar großen Gelände einen eigenen Biogarten. Zusammen mit Caleb aus Darmstadt, der ebenfalls frisch sein Abitur absolviert hatte, arbeitete ich in den ersten drei Monaten auf den Feldern. Wir hatten nicht viel Vorerfahrung, wenn es um die Pflege einer solch großen Anlage ging – und vor allem sollte man von dem Ertrag ja auch leben! So lernten wir unter anderem, wie man die Erde mit der Hacke aufbereitet, Saatgut und Kompost zum Düngen herstellt sowie die Samen entsprechend einpflanzt und pflegt.
Da wir körperlich harte Arbeit nicht gewohnt waren, fielen wir jeden Abend direkt nach dem Abendessen völlig übermüdet ins Bett. Eigentlich hatten wir ja geplant, mit den Kindern zu spielen ... Stattdessen hackten wir auf Feldern herum – und das größtenteils mit sehr traditionellen Methoden. Als wir jedoch nach etwa zwei Monaten unseren ersten Salat ernteten, den wir selbst angebaut und gepflegt hatten, begannen wir die Gartenarbeit zu schätzen – ja, überraschenderweise liebten wir sie bald sogar.
Zu beobachten, wie jedes kleine Pflänzchen – angefangen vom Basilikum über Rote Beete bis hin zum Kürbis – langsam wächst und von Tag zu Tag schöner und größer wird, zeigte mir, wie Gott sich fühlen muss, wenn er sich um uns kümmert. Auch wenn wir durch warmes Wetter und wenig Regen gesegnet wurden, erfreute das unseren Garten eher weniger. Entsprechend schwach fiel daher des öfteren unser Ertrag aus. Dennoch mussten wir jede Woche Kunden, darunter wohlhabende Privatpersonen, Restaurants und Supermärkte, bedienen, die ihr frisches Biogemüse schon sehnsuchtsvoll erwarteten.
So kam es, dass mein Chef mich an einem Erntetag darauf hinwies, dass ich wohl die Radieschen vergessen hätte. Ich war am Tag zuvor noch auf dem Feld gewesen und wusste daher ganz genau, dass die nicht einmal kirschgroßen Radieschen viel zu klein sein würden, um sie zu ernten. Also versuchte ich meinem Chef eindringlich klarzumachen, dass unsere Kunden sich wohl noch eine, oder besser zwei Wochen gedulden müssten. Bis dahin wäre sicher die Mindestgröße erreicht. Zu meinem Erstaunen ließ er von seiner Nachfrage nach den Radieschen nicht ab. Also stapfte ich los, um ein anderes Gemüse zu ernten. Eine halbe Stunde später traf ich meinen Vorgesetzten wieder. Und was hatte er dabei? Zwei große Kisten gefüllt mit Radieschen. Die waren alles andere als klein und sahen noch dazu sehr gut aus. Verwundert fragte ich ihn, ob noch ein anderes Feld existieren würde, was er mit einem Lächeln verneinte. Ich war mir absolut sicher, dass Gemüse innerhalb einer Nacht nicht annähernd eine solche Größe erreichen könne. Mein Chef lächelte mich weiter an. Dann sagte er: „Dir fehlt wohl noch etwas Glaube, junger Mann.“ In diesem Moment fühlte ich mich wirklich ertappt. Ich hatte völlig vergessen, wie gerne sich unser Schöpfer um die kleinsten Dinge sorgt!
Da fiel mir einer meiner Lieblingsverse ein: „Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ (Matthäus 6,30-33) So waren wir trotz dürftiger Ernte jede Woche aufs Neue in der Lage, die entsprechende Gemüsemenge an unsere Kunden auszuliefern.
Nicht allein unterwegs
Mit Bedauern mussten wir allerdings feststellen, dass sich Mitarbeiter regelmäßig vom Kinderdorf verabschiedeten: die Arbeit war für viele zu hart, die Bezahlung zu gering. Sie hinterließen Lücken, die Caleb und ich füllten. Bald gaben wir neben unseren Gartenverpflichtungen Sportunterricht, halfen im Büro, machten Führungen, wenn Besuchergruppen vorbeikamen, oder kümmerten uns um Spenden. Der bolivianische Straßenverkehr wurde dabei zu einem einmaligen und gewöhnungsbedürftigen Erlebnis. Regeln? Davon gab es nur wenige – es galt vor allem das Recht des Schnelleren. Doch nach einer kurzen Zeit der Anpassung fuhr ich unsere Kinder zur Schule, kaufte Essen für das Kinderdorf ein oder lieferte unser Gemüse in der nächsten Großstadt Santa Cruz aus. Ich bin Gott wirklich dankbar, dass er mich jedes Mal unfallfrei durch den chaotischen Verkehr brachte! Als blauäugiger „reicher“ Ausländer wurde ich nicht selten von der Polizei angehalten. Meistens stellte mir Gott jedoch die richtigen Personen zur Seite und legte mir die passenden spanischen Worte in den Mund, sodass die Gespräche gerade in brenzligen Situationen ein positives Ende fanden.
Noch herausfordernder als der Verkehr wurden auch die sechs Wochen als Hauseltern von sieben Jungs im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren. Caleb und ich sprachen zu der Zeit noch kein Wort Spanisch, sollten uns jedoch rund um die Uhr um die Kinder kümmern. Das beinhaltete den Start in den Tag, das Zubettgehen, drei Mahlzeiten, Wäsche waschen und was eben sonst noch dazu gehört, um so eine „kleine“ Familie intakt zu halten. Eine gemeinsame Runde Fußball, Schach oder UNO bildete da am Nachmittag eine willkommene Abwechslung für alle.
Denn jedes Kind brachte eigene Herausforderungen mit sich. Und auch wenn sie gekonnt ihre Aufgaben vernachlässigten, viel Unfug produzierten und mich damit regelmäßig auf die Palme brachten, eroberten sie tatsächlich mein Herz. Spätestens wenn sie einem mit breitem Lächeln in die Augen schauten, hatte man sie wieder gern. Manche wurden mit der Zeit sogar ruhiger, selbständiger und offener für Gott. Diese Entwicklung zu beobachten, war wirklich bewegend.
Rückblickend war das Jahr in Bolivien das härteste und anstrengendste Jahr meines Lebens – und gleichzeitig war es das schönste. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie abhängig wir von Gott sind, wie er uns liebt und das Beste für jeden von uns will. Ich musste feststellen, dass Geld- oder Sachspenden leider nicht immer die erhoffte Wirkung zeigen. Gelder lassen sich manchmal irgendwie auftreiben, doch die eigentliche Mangelware sind Helfer vor Ort. Dabei sind nicht einmal spezielle Fähigkeiten oder eine Ausbildung erforderlich. Allein der Wille, mitanzupacken und zu geben, was man kann, macht oftmals einen Unterschied.
Bei Interesse an einem Freiwilligen Sozialen Jahr im Ausland mit ADRA gibt es unter www.live.adra.de alle weiteren Informationen.