Gemeinde
Zurückgeliebt
Bin ich der Hüter meiner Glaubensgeschwister?
Ich bin als Kind einer bekennenden Adventistin aufgewachsen, die mir von ganzem Herzen eine wunderbare und hingebungsvolle Mutter war. Sie und auch meine damalige Heimatgemeinde taten ihr Bestes, um mir einen lebendigen Glauben an Gott zu vermitteln. Kinderstunden waren selten langweilig, unsere Pfadfinderleiter waren sowieso die „coolsten Socken“ überhaupt, und ein kinderlos gebliebenes Paar weihte ihr Leben hingebungsvoll den Belangen der Gemeindejugend.
Mit zwölf Jahren konnte ich alle Pfadfinderknoten mit verbundenen Augen, wusste, wie man das Daniel-Standbild auslegt und hätte so manchem Erwachsenen einen Crashkurs über die Zeit um 1844 geben können. Dennoch war mein Herz zutiefst leer. Während in meiner Jugendgruppe einer nach dem anderen getauft wurde, entfernte ich mich innerlich immer weiter von der Gemeinde. Gott gab es, da war ich mir sicher. Nur sein „Bodenpersonal“ und deren viele „Regeln“ gingen mir unglaublich auf den Keks: kein Alkohol, keine Partys – nicht mal bauchfreie Tops waren erlaubt. Ich fühlte mich wie ein bemitleidenswerter, spießiger Außerirdischer. Ich hatte das Außenseiterdasein an meiner Schule sowas von satt. Meine Gottesdienstbesuche wurden seltener und blieben irgendwann ganz aus. Ich wollte schließlich auch endlich mal „cool sein“, „dazugehören“, „frei sein“, „mein Leben genießen“!
Warum Menschen der Gemeinde fernbleiben
Unsere Gemeinden haben einen großen Schwund an jungen Leuten zu beklagen, die – wie ich – trotz der besten Voraussetzungen etwa durch den Einfluss falscher Freunde „vom richtigen Weg abkommen“. Aber auch viele erwachsene Glieder verlassen unsere Gemeinden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Uneinigkeiten über Glaubensfragen oder die Art der Anbetung stehen dabei eher im Hintergrund. Neben der Entmutigung (geistlicher oder anderer Art) und dem Streit mit anderen Gemeindegliedern oder dem Pastor sind es vor allem sehr persönliche Beweggründe. Der Übergang in einen neuen Lebensabschnitt (Umzug, Jobwechsel, Studium, Hochzeit etc.) kann aus diversen Gründen einen Schnitt zwischen Glied und Gemeinde schaffen. Krankheiten (eigene oder die eines Angehörigen) erschweren den regelmäßigen Besuch – bis er schließlich ganz ausbleibt. Oft jedoch ist der traurige Grund der folgende: Brüder und Schwestern fühlen sich verletzt vom Mangel an persönlicher Fürsorge und Anteilnahme. Und wenn sie dann noch mangelhaft ins Gemeindeleben eingebunden sind und keine Freunde in der Gemeinde gefunden haben, steht die Prognose für ihr Bleiben schlecht.
Als ich vor vier Jahren in meine jetzige Heimatgemeinde wechselte, war ich erschüttert, als ich erfuhr, dass von den Gliedern auf der Gemeindeliste nicht einmal die Hälfte zum Gottesdienst kam. Ich versuchte alles Mögliche, um die Gründe für ihr Fernbleiben herauszufinden. Leider bekam ich nur kryptische Antworten und schmiss nach einigen erfolglosen Anläufen die Flinte ins Korn. Was sollte das schon bringen? Ich kannte diese Menschen ja nicht mal … War ich etwa für ihr Seelenheil zuständig? Sicher nicht! Jeder ist doch für sich selbst verantwortlich, – oder?!
Ehemalige wiedergewinnen – tausend Möglichkeiten!
Zum Glück dachten die Menschen in meiner Kindheitsgemeinde nicht so, als ich begann, ihr fernzubleiben. Auch wenn ich die Gemeinde verließ, war ich zu keinem Zeitpunkt von ihnen verlassen. Immer wieder erhielt ich Briefe und Postkarten von unserer Jugendleiterin, die mir zu verstehen gab, dass sie mich vermisste und die mir darin auf liebevolle Art den Schutz Jesu zusprach. Ein Mädchen aus der Gemeindejugend traf sich in regelmäßigen Abständen zum Shopping und Eisessen mit mir – von Bibel war dabei keine Rede. Ein Junge teilte meine Leidenschaft für Hip-Hop und wir besuchten gemeinsam das Konzert einer bekannten Gruppe. Ein anderes Gemeindeglied lud mich zum Pizzaessen ein und brachte mir spontan nach dem Dessert mit seinem Smart Autofahren bei. Ganz nebenbei ließen mich all diese Personen wissen, dass mein Weggang ein Loch in der Gemeinde und nicht zuletzt auch in ihrem Herzen zurückgelassen hatte. Immer wieder schrieb meine Mutter mir liebevolle Briefe mit Bibelversen und legte sie mir in die Hand, bevor ich zu einer Party aufbrach, von der sie und auch ich niemals wussten, wie und wo sie enden würde. Und auch wenn ich es zu diesem Zeitpunkt weder schätzen konnte noch ernst nahm: Sie alle gaben mir zu verstehen, dass ich ihnen als Mensch wertvoll war.
Taktik oder ehrliche Liebe?
Wer ehemalige oder inaktive Gemeindeglieder wieder zurückgewinnen möchte, sollte sich zunächst fragen: Was ist der Grund dafür? Wünsche ich mir ein „dickeres Polster“ in der Gemeindekasse? Würde ich gerne mal ein paar Gemeindejobs an jemand anderen abgeben? Möchte ich mit Gliederwachstum vor der Nachbargemeinde gut dastehen? Oder habe ich wirklich das intensive Verlangen, ein verlorenes Schaf zu seinem Hirten zurückzuführen, damit es wieder erlebt, wie wunderschön Gemeinschaft mit Gott und in der Gemeindefamilie sein kann?
Wenn die ehrliche und aufrichtige Liebe zu einem Menschen nicht der Grund für unsere Bemühungen ist, dann wird die Wiedergewinnung Ehemaliger zwangsläufig im Sande verlaufen. Wer nicht willens und bereit ist, sich einer ehrlichen und aufrichtigen Freundschaft zu einem ehemaligen Gemeindeglied zu verschreiben, der ist auf dem Holzweg. Denn es geht nicht darum, Listen zu füllen oder die Gemeindekasse aufzupäppeln, mehr Auswahlmöglichkeiten vor den Wahlen zu haben oder sich auf sonstige Weise zu „profilieren“. Es geht darum, echte Freundschaft und Liebe zu bieten, wie auch Jesus es tat, um jemanden auf seinem Weg zu begleiten und zu bereichern. Es geht dabei auch nicht nur um Bibelstudium, sondern vielleicht auch um gemeinsames Pizzaessen, Shopping, kostenlose Fahrstunden oder ein Gespräch über Musik. Es geht um einen Lebensstil, der Menschen herzlich und aufrichtig willkommen heißt, die sich vielleicht schon vor langer Zeit innerlich und äußerlich von uns oder der Gemeinde verabschiedet haben.
Ich hatte Glück. Denn nicht jeder Ehemalige findet in seiner Gemeinde eine Gruppe von Menschen, die ihn aufrichtig lieben und für seine ewige Errettung Sorge tragen möchten. „Seelen gehen aus Mangel an persönlicher Arbeit verloren“, schrieb Ellen White (Evangelisation, S. 381). Viele unserer Gemeinden könnten doppelt so viele Glieder haben, wenn wir sogenannte „Karteileichen“ durch ehrlich gemeinte und aufrichtige Liebe zurückgewinnen könnten für ein bereicherndes Leben an Jesu Seite.
Das „erste Mal“ zurück
Das „erste Mal“, wenn sich ein ehemaliges Glied wieder zurück in seine alte Gemeinde „traut“, ist entscheidend für das restliche Leben dieser Person – ja, ich möchte fast sagen: für ihr ewiges Schicksal. Ich persönlich wurde damals mit einem schnippischen „Ach, auch mal wieder da?“ empfangen. Eine nicht ganz gelungene Überleitung in das Gespräch mit einer Ehemaligen. Und manch einer hätte wohl gleich auf dem Absatz kehrtgemacht. Gottes Gnade habe ich es allerdings zu verdanken, dass ich sanguinisch veranlagt bin und mir solche und andere noch weitaus schlimmere Kommentare nicht besonders zu Herzen nahm.
Wir Adventisten versagen leider regelmäßig, trotz unseres gut organisierten Begrüßungsdienstes – wahrscheinlich, weil wir uns folgende Aussage Jesu zu selten in Erinnerung rufen: „Genauso ist im Himmel die Freude über einen verlorenen Sünder, der zu Gott zurückkehrt, größer, als über neunundneunzig andere, die gerecht sind und gar nicht erst vom Weg abirrten.“ (Lukas 15,7 NLB)
Eine lange Reise voller Liebe
Vor vielen Jahren begann, dank Menschen mit Herzen voller Liebe, meine lange Reise der Heilung an der Seite eines wunderbaren und liebevollen Gottes, dessen Gegenwart ich keine Sekunde meines Lebens mehr missen möchte. Eine Reise, die für jeden eine Investition war, der mich begleitet hat: meine Mutter, meine Jugendleiterin, meine Freundin – und all die anderen Gemeindeglieder, die Zeit, Nerven und auch Geld dafür einsetzten, um mich in Gottes Gemeinde „zurückzulieben“. Ich weiß nicht, wie viel Schmerz sie im Herzen getragen haben, denn es dauert manchmal Jahre voll quälender Ungewissheit, wenn wir Menschen auf ihrem Weg begleiten.
Doch es scheint, als ob die Personen in meinem Umfeld damals den Grundsatz aus 1. Korinther 13,13 (GNB) lebten: „Auch wenn alles einmal aufhört – Glaube, Hoffnung und Liebe nicht. Diese drei werden immer bleiben, doch am höchsten steht die Liebe.“ Und dafür bin ich ihnen heute noch unendlich dankbar. Denn die erfolgreiche Wiedergewinnung Ehemaliger lebt von diesen drei Dingen: Glaube, Hoffnung und Liebe. An einen Menschen zu glauben, auch wenn er dieses Vertrauens aktuell nicht würdig scheint. Auf Gott zu hoffen, der Herzen berühren kann, die sich vor ihm verschlossen haben. Und bedingungslos zu lieben, auch wenn andere sich vielleicht so benehmen, dass sie nach menschlichen Maßstäben dieser Liebe nicht würdig sind. Bin ich der Hüter meiner Glaubensgeschwister? Ja, ich bin fest davon überzeugt.
Weiteres Informationsmaterial zur „Reclaim Ministry“ (Initiative der GK zur Wiedergewinnung inaktiver und ehemaliger Gemeindeglieder) können Interessierte kostenlos unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! anfordern.