Leben
Für mehr Liebe zu sich selbst
Wie ich lernte, mich mit Gottes Augen zu sehen
Wer oder was bestimmt, wie wertvoll du dich fühlst? Ist dein Selbstbild womöglich abhängig von deiner Leistung, deinem Aussehen oder anderen Personen? Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, kennt wohl jeder von uns. Jeder erlebt es auf eine andere Weise, aber das Ergebnis ist gleich: ein drückendes Gefühl der Leere und Wertlosigkeit, die manches Mal sogar in Verzweiflung mündet. Gibt es einen Ausweg? Eine Beispielgeschichte zeigt, was falsch begründeter Selbstwert mit uns macht und wie wir lernen, uns mit den Augen unseres Schöpfers zu sehen. Sie verdeutlicht außerdem, warum Selbstliebe so wichtig ist, und warum sie nichts mit Stolz zu tun hat.
„Ich kann nicht mehr ... ich will nicht mehr ... das war der letzte Tropfen. Das Fass läuft nicht über, es ist geplatzt. Ich kann einfach nicht mehr ... sie haben recht!“ In diesem Moment brach alles heraus. Die vielen Tränen erschwerten die Sicht, während das häufige Luftholen beim Weinen das Atmen behinderte. Nur ab und zu schien sich ein Schrei Bahn zu brechen. Doch der Körper gab nach und brach zusammen. Mit gerade einmal 14 Jahren hatte dieser Junge bereits mit dem Leben abgeschlossen. Ist es nicht tragisch, wenn das, was man erlebt, einen zu dem Ergebnis bringt „Es ist genug!“? Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, an die man sich klammern kann und der Tod dem Leben vorzuziehen ist? Es war dieses Gefühl der Verzweiflung und Wertlosigkeit, das mir das Leben so unattraktiv machte, dass ich es nicht länger haben wollte.
Dieser Moment kam aber nicht plötzlich. Vielleicht war ich ein besonders merkwürdiges Kind ... vielleicht fiel das Los der Klasse einfach unglücklicherweise auf mich, aber schon früh ließen mich meine Klassenkameraden spüren, dass ich „unter ihnen stehe“. Fast jeden Tag war ich irgendeiner Schikane ausgesetzt – mal wurde ich in den Pausen durch das Schulgebäude gejagt, angespuckt, geschlagen oder einfach nur gegen Wände und Mobiliar geschubst, falls sie mich zu fassen bekamen ... Andere Male wurde man exzessiver und stellte mir ein Bein, sodass ich hinfiel, woraufhin Jungs und Mädels gleichermaßen Freude daran hatten, auf mich einzutreten. Eines gleich vorweg: Ich bin Gott dankbar, dass dies nicht jeden Tag passierte – ich hatte tatsächlich auch positive Tage, an denen ich abgelenkt genug war und in gewissem Sinne „glücklich“ – jedoch neigen diese Tage dazu, in meiner Erinnerung zu verschwimmen.
Während meine Mitschüler meine Opferrolle scheinbar genossen und mich hin und wieder verprügelten, wurden meine Leistungen zunehmend schlechter. Mein Lehrer hatte die Angewohnheit, die beste und die schlechteste Klassenarbeit jedes Mal mit Note und Namen zu nennen … – ich war immer dabei. Nach einiger Zeit brauchte mein Lehrer den Namen der schlechtesten Arbeit gar nicht mehr vorzulesen, da die Klasse ihn fast schon im Chor ausrief. Zudem war ich Dauergast bei den Streitschlichtern der Schule – nicht immer unschuldig, aber immer häufiger aufgrund von sogenannten „Täter-Opfer-Ausgleichen“. Eines Tages eskalierte eine „Treibjagd“ stärker als sonst, wobei ein Klassenkamerad meinen Kopf so heftig gegen die Wand schlug, dass ich ohnmächtig wurde und mit einer golfballgroßen Beule an der Stirn wieder zu mir kam. Nun griffen meine Lehrer endlich ein ... und schickten mich zum Schulpsychologen! Ich verstand die Welt nicht mehr – „Nicht ich bin der Kranke, sondern die, nicht ich brauche eine Behandlung, sondern die“, dachte ich mir im Stillen. Mein Limit war erreicht.
In meinen Augen zeigte mir die ganze Welt, dass ich der Dümmste, der Schwächste, der Hässlichste und somit der Wertloseste war – was mein Leben ja auch zu reflektieren schien. Meine Leistungen waren miserabel, ich konnte mich (außer mit Geschrei) nicht wehren, Freunde hatte ich kaum. Nachdem mir das über Jahre hinweg eingeredet wurde, begann ich es schließlich selbst zu glauben. Und so saß ich da: „Ich kann nicht mehr ... sie haben recht.“ Und ja, was hatte ich zu bieten? Was machte mein Leben in irgendeiner Form noch lebenswert? Was bin ich denn noch wert?
Eine Illusion, die oft erhalten bleibt
Tragischerweise ist das, was ich in meiner Kindheit erlebte, kein Einzelfall. Nicht jeder macht diese Erfahrung in der gleichen Intensität, mancher in deutlich milderer Form. Nicht jeder erlebt es in so jungen Jahren, mancher womöglich erst im Berufsleben. Aber ein Gefühl von Leere und Wertlosigkeit – das Empfinden, niemals gut genug sein zu können – plagt zahllose Menschen (wobei statistisch Jüngere stärker als Ältere und Frauen stärker als Männer betroffen sind). Ich kann nur erahnen, wie viele beim Lesen dieser Zeilen zustimmend nicken oder zumindest sofort eine Person aus dem Bekanntenkreis im Sinn haben. Nun müsste man meinen, dass Christen in der Statistik automatisch selbstbewusst, glücklich und mit erhobenem Haupt herausstechen – doch leider ist oft das Gegenteil der Fall. Häufig ist gerade das Bewusstsein von Schuld und Sündhaftigkeit ein verstärkender Faktor, der uns runterzieht. Und manch einer erniedrigt sich selbst möglicherweise noch zusätzlich aus einem falschen Demutsgefühl heraus.
So sind viele von uns mit einem kaputten Selbstbild und zerstörten Selbstwert beladen. Das Verzwickteste daran ist, dass man oft gar nicht merkt, was das eigentliche Problem ist. In den meisten Fällen müht man sich ab, kämpft, leistet und ringt und kann noch nicht einmal erkennen, dass man dies alles in erster Linie aufbringt, um sich besser zu fühlen und den eigenen Wert zu begründen oder zu stärken. Die Krux ist, dass dieses Unterfangen vielen sogar gelingt – so mancher bekommt die gewünschte und gebrauchte Aufmerksamkeit aufgrund seiner Erscheinung, seines Ansehens oder seiner Leistung. Damit bleibt die Illusion erhalten, diese Dinge würden uns zu einem wertvolleren Menschen machen.
In meinem Fall war es gar nicht so sehr das drückende Empfinden, einen zu geringen Wert im Vergleich zu anderen zu haben – dieses Gefühl haben wohl nicht wenige. Stattdessen fiel lediglich alles weg, was mir hätte Wert geben sollen ... Während ich die Illusion „Ich habe etwas erreicht, das mir Wert gibt“ nicht länger aufrechterhalten konnte, da es einfach nichts mehr gab, gelingt das vielen. Doch das Gefühl, meinen Wert weiter untermauern oder aufbauen zu müssen, bleibt. Deshalb leben wir so gern nach dem olympischen Motto „citius, altius, fortius“ (dt.: schneller, höher, stärker), oder wie man es aus der alten Sparkassenwerbung kennt: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ – also bin ich’s!
Wenn ich jetzt zurückblicke und darüber nachdenke, habe ich zunehmend den Eindruck, dass also „mangelnder Wert“ gar nicht das Problem ist, sondern eher „falsch begründeter Wert“, den wir uns zuschreiben.
Wenn wir versuchen, ein Boot mit Löchern zu retten
Wenn man dieses Gefühl verspürt, nicht gut genug zu sein, dann sucht man nach Größen in seinem Leben, die einem den eigenen Wert wieder bestätigen, stärken oder erneut aufbauen können. Das Absurde daran ist, dass uns dieses Konzept nie explizit beigebracht wurde. Es gab kein Schulfach, in dem wir gelernt haben: „Werde schöner, werde stärker, leiste mehr – und du bist mehr wert.“ Auch unsere Eltern haben sich nicht mit uns hingesetzt und erklärten uns, wie wir unseren Wert wiederaufbauen können. Wir erlernen dieses obskure Konzept von Wert indirekt durch eigenes Erleben und Ableiten – und ohne dass es uns jemand sagt, binden wir unseren eigenen Wert (oder den von anderen) an vergängliche Größen. Wie bizarr das ist, wird deutlich, wenn die typischen Aspekte plötzlich wegfallen würden:
- Was, wenn das Alter oder ein Unfall meine Erscheinung entstellt?
- Was, wenn mein finanzieller Stand durch eine Wirtschaftskrise bedroht wird?
- Was, wenn die angesehene Person, die ich kenne oder mit der ich verwandt bin, wegzieht oder stirbt?
- Was, wenn ich krank werde und nicht mehr dasselbe leisten kann wie zuvor?
- Was, wenn meine Erfolge übertrumpft werden oder in Vergessenheit geraten?
Zugegeben, kaum jemand baut auf nur einen dieser Pfeiler – vielleicht spielen sie ja einfach zusammen und bilden so ein ausreichend solides Fundament? Leider liegt gerade hier der Irrtum: Das sind nämlich keine Pfeiler für ein Fundament, sondern eher Löcher in einem Boot. Sich auf mehr als einen dieser Aspekte zu verlassen, ist, als würde man mehr Löcher in den Rumpf eines Bootes bohren, um es vor dem Sinken zu retten.
Ich wünschte, es wäre mir möglich, endgültig zu widerlegen, warum all diese Dinge unmöglich unser Selbstwertgefühl bestimmen können – das Problem ist aber, dass sie es können! Nur weil es absurd, bizarr oder endgültig unfair und willkürlich ist, bedeutet das nicht, dass es nicht (zumindest für eine bestimmte Zeit) funktionieren kann ... Das ist der Punkt, an dem letztlich sogar Selbsthilfebücher mit einem „Du musst nur daran glauben“-Rat scheitern – denn um uns herum haben wir es immer nur mit vergänglichen, willkürlichen Größen zu tun.
Und der einzige Grund, warum all diese wackeligen, selbstgewählten Lebensaspekte kein Maßstab sein können, ist schlicht und ergreifend, weil unser Schöpfer keinen davon wählte, um unseren Wert zu bestimmen.
Die Wende in meinem Leben
Ich wünschte, ich könnte zurückblicken und von meiner eigenen Geschichte sagen: „Und dann wurde es mir endlich klar ...“ Aber die Wahrheit ist: Ich war am Boden angekommen und hatte keinen Halt mehr ... und dort blieb ich vorerst auch. Gott versuchte, mich an all die Bibeltexte zu erinnern, die ich kannte, aber ich schob sie gleich wieder zur Seite und tat sie als „nette Sprüche“ ab. Also ging er einen Schritt weiter und lenkte meine Aufmerksamkeit auf etwas, das bereits da war, ich aber einfach nicht gesehen hatte: einen Freund Namens Willi. Mir ist heute klar, dass wir nie so alleine sind, wie wir uns in der Dunkelheit unseres Lebens manchmal fühlen – oft sehen wir Menschen, die Gott in unser Leben gestellt hat, einfach nicht. Dieser Freund hatte sich dazu entschieden, mein Freund zu sein, und mich sozusagen als seinen Freund „adoptiert“. Zu dieser Zeit war ich ihm kein Freund. Im Gegenteil: ich weiß, dass ich ihm das Leben schwer machte – aber er war mir ein Freund ... und genau das war es, was ich anfangs einfach überhaupt nicht verstehen konnte. Warum würde sich jemand wie er mit jemandem wie mir abgeben? Ich konnte nicht begreifen, warum mir jemand mit so viel Freundlichkeit und Geduld begegnete, obwohl ich nichts zu bieten hatte. Für ihn jedoch war es simpel: Er sah in mir den gleichen Wert, den er selbst auch in Gottes Augen hatte.
Das abstrakte, ferne Wissen über Gott wurde mit der Zeit greifbar für mich – vor allem darin, wie mein Freund mich behandelte. Nur weil er zu mir sagte: „Für mich bist du etwas wert“ wurde mein Leben nicht auf magische Weise umgekrempelt. Ich wurde nicht schöner, klüger oder stärker. Stück für Stück wuchs aber meine Gelassenheit darüber, dass ich in den Augen anderer nicht gut genug war und vieles, das ich tat, einfach nicht ausreichte, um angenommen zu werden. Doch für meinen Freund war ich wertvoll. Erst nachdem ich akzeptiert hatte, dass er verrückt genug war, mich zu mögen, und es stehen ließ, dass ich es nicht verstand, begann ich Jahre nach meinem Tiefpunkt zu begreifen, dass dies die gleiche Dynamik war wie zwischen Gott und mir. Mit anderen Worten: Mein Freund verdeutlichte mir quasi, was Gott mir schon längst gesagt hatte.
Erst als ich annehmen konnte, dass ich tatsächlich unermesslichen Wert für Gott, meinen Schöpfer, habe, und aufhörte, meinen Wert durch andere Dinge definieren oder stärken zu wollen, konnte ich in der neu gewonnenen Ruhe langsam wachsen. Entweder erwarten wir sofortige Veränderung oder halten verkrampft an den anderen Messlatten fest. Die Wende in meinem Leben kam aber erst, als ich mich entschied, die Messlatte meines Freundes zu akzeptieren und die Freiheit zu genießen: Ich bin wertvoll – Punkt! Was er von mir bekommt, wie ich bin oder was andere von mir denken, verändert nicht, wie er mich sieht.
Verstehen, welchen Wert wir für Gott haben
Woran misst Gott also meinen Wert? Woran sollte ich ihn messen? Es gibt wenig andere Dinge, die die Bibel so deutlich hervorzuheben versucht, wie die Tatsache, welchen Wert wir für Gott haben. Gleich in den ersten Zeilen wird gesagt, dass er uns in seinem Bilde schuf (Gen 1,26-27). Wenn ich, sein Ebenbild, wenig von mir selbst halte, dann fällt das irgendwie auch auf Gott zurück – und keiner würde behaupten, Gott sei wenig wert.
David beschreibt in einem seiner Psalmen, wie wunderbar, fantastisch und erstaunlich er uns schuf (Psalm 139,13-16). Jesu ganzes Leben war darauf ausgerichtet, Menschen mit Würde zu begegnen und ihnen zu zeigen, wie wertvoll sie für ihn sind. Paulus versucht das so zu beschreiben, dass Gott uns als seine Kinder erwählte, noch bevor die Grundsteine der Erde gelegt waren (Eph 1,4). Er entschied sich, unser Freund und Erlöser zu sein, als wir noch nichts von ihm wussten oder wissen wollten – Paulus nennt es „als wir noch Feinde waren“ (Rö 5,8-10). Gott ging sogar so weit, dass er alle Herrlichkeit und Größe des Universums zurückließ, alles aufgab und sich auf den Weg machte, um am Kreuz zu sterben (Phil 2,6-8) – wie viel mehr könnte jemand bezahlen, wie viel mehr könnte jemand beweisen, dass ich wertvoll für ihn bin?
Wenn wir unseren Wert nicht mehr an falschen Größen messen, sondern ausschließlich an dem, was Gott als Messlatte gesetzt hat, dann kommen wir zur Ruhe und können in seiner Kraft wachsen. Aufgrund von falsch begründetem Wert kämpfen wir oft gegen Windmühlen. Ellen White geht sogar so weit zu sagen, dass „der Herr enttäuscht [ist], wenn sich seine Kinder selbst gering achten. Er möchte, dass sich seine auserwählten Erben nach dem Preis bewerten, den er für sie bezahlt hat. Gott hat Verlangen nach ihnen, sonst hätte er seinem Sohn nicht einen solch kostspieligen Auftrag zu ihrer Erlösung erteilt“ (SDL, 650.3).
Es ist nicht stolz, sondern sogar realistisch, zu sagen: „Ich bin jemand. Ich bin unglaublich viel wert!“ Clive Lewis beschrieb Demut als „nicht weniger von sich halten, sondern weniger an sich zu denken und mehr an andere.“ In unserem Leben sollten Illusionen und falsch begründeter Wert keinen Platz haben – die Wende kommt, wenn wir seine Messlatte zu- und alle anderen loslassen. Und manches Mal braucht es vor allem eines: Zeit – damit der Gedanke, vor Gott genug zu sein, im Alltag greift und spürbar wird.
Zeit, um über zwei Entscheidungen nachzudenken
Aufgrund meiner eigenen Geschichte kann ich nur zu zwei Entscheidungen ermutigen:
1. Ich will es bewusst wagen, die Messlatte Gottes einfach anzunehmen (auch wenn sie aus meiner Sicht eventuell noch keinen Sinn ergibt) und alle anderen loszulassen, da sie lediglich Löcher in meinem Bootsrumpf sind. Dabei lasse ich zu, dass Gott mir durch Menschen, die vielleicht schon lange da sind, die ich aber womöglich gerade nicht sehe, zeigen will, wie wertvoll ich für ihn bin.
2. Ich will Menschen um mich herum ein Freund sein und in ihnen den gleichen Wert sehen, den ich in den Augen Gottes habe ... Wer weiß, vielleicht ist es gerade so dunkel in ihrem Leben, dass Gott fern und nicht greifbar wirkt. Dann kann ich ihnen ihren gottgegebenen Wert veranschaulichen, der ihnen die nötige Ruhe zum Durchatmen gibt.
Gott wünscht sich, dass wir als seine Kinder voller Überzeugung sagen können: „Ich bin wertvoll!“ Was für ein herrlicher und einfach fabelhafter Gedanke. Und weil ich mir gewünscht hätte, es häufiger gehört zu haben, möchte ich es noch einmal deutlich sagen: Egal wie du dich gerade siehst, egal wie du dich gerade fühlst, egal was dir die Welt gerade weiszumachen versucht – du bist unvergleichlich wertvoll, du bist phänomenal geliebt, ohne dich würde etwas fehlen! Du bist wertvoll – Punkt!