Auslandsmission
Radikale Veränderungen
25 Jahre später in Kirgistan
„Warum fliegen wir denn nach Kirgistan? Es gibt doch hier bei uns in Baden-Württemberg genug Arbeit!“ Als unerfahrener Prediger, der im Sommer 1992 gerade sein Praktikum begonnen hatte, fragte ich mich, warum wir den Aufwand betrieben, um nach Mittelasien zu fliegen. Zwei Großevangelisationen waren geplant, die mein Mentor und ich in den Städten Karakol und Tokmok in Kirgistan durchführen sollten. Trotz anfänglicher Skepsis stellten sich die folgenden Wochen als die schönsten und ausbildungseffektivsten Erfahrungen meines Dienstes heraus. Kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren sehr viele Bewohner der ehemaligen Sowjetunion offen für das Evangelium. Die Leiter vor Ort hatten jeweils die größte Halle gemietet und Hunderte kamen zu den öffentlichen Vorträgen. Nie werde ich die Begeisterung dieser Menschen vergessen, die stundenlang zuhören wollten und viele Fragen hatten. Wir wurden zu Bürgermeistern eingeladen und sprachen an öffentlichen Schulen. Es war Erntezeit, und wir durften als Erntehelfer mitarbeiten. Neben den zahlreichen offenen Menschen habe ich auch die Zeit mit ganz besonderen Geschwistern in Erinnerung behalten. Wir lebten in diesen Wochen wie eine Familie zusammen. Obwohl wir aus ganz anderen Lebensrealitäten kamen, spürten wir sofort: Wir waren Geschwister, und der Bau der Gemeinde Gottes war die gemeinsame Lebenspriorität.
Wenn der Segen zurückkehrt
Nun bin ich nach 25 Jahren wieder in Tokmok. Die Berge sind immer noch so gewaltig und schön, die Häuser sind nach wie vor ärmlich, und die Straßen haben vielleicht noch ein paar Schlaglöcher mehr als damals. Auf den ersten Blick hat sich kaum etwas verändert. Auch sind einige wenige Geschwister von damals noch da. Der kleine Mischa, der schon als Siebenjähriger die vielen Vortragsgäste mit seinem Sologesang begeisterte, ist heute ein gestandener Pastor und Sekretär der Vereinigung. Auch seine Eltern und Schwiegereltern, Maria und Victor Dill und Marina und Rubin Ott, halten nach wie vor die Stellung im Missionsfeld Kirgistan; ihr Missionsgeist lebt in ihren Kindern weiter.
In den Gemeinden hat sich jedoch sehr viel verändert. Hunderte von deutschen und russischen Geschwistern haben das Land verlassen. Die Gemeinden sind zum großen Teil leer, und es gibt heute nur noch knapp 600 Adventisten in Kirgistan. Viele Geschwister sind zu uns nach Baden-Württemberg gekommen, haben Gemeinden verstärkt, neue Gemeinden gegründet, neue Gemeindehäuser gebaut. In Kirgistan gibt es momentan nur fünf Prediger; allein in Baden-Württemberg hingegen haben wir derzeit fünf Pastoren, die aus Kirgistan stammen. Denn seit Anfang der 90er Jahre durften wir viele Geschwister aus Kirgistan in Baden-Württemberg aufnehmen. Wie kurz gedacht war doch meine Frage von damals: das Feld in Kirgistan zu unterstützen, hat uns reichen Segen gebracht!
Hintergründe kennenlernen
Es stimmt, das Miteinander zwischen Deutschen und sogenannten Russlanddeutschen war und ist nicht immer leicht. Doch durch meinen Einsatz in Kirgistan vor 25 Jahren erhielt ich ein Stück weit Hintergrundinformationen. Ich hörte von deutschen Geschwistern, dass viele ihrer Vorfahren dem Einladungsmanifest der deutschen Zarin Katharina der Großen von 1763 gefolgt waren und sich hauptsächlich im Wolga- und Schwarzmeergebiet angesiedelt hatten. Gerade die versprochene Religionsfreiheit war für die meisten Aussiedler aus dem von Religionskriegen geplagten Europa entscheidend für diesen Schritt. Doch viele der deutschen Auswanderer erlebten, dass sich das versprochene Paradies nach Ankunft in den Steppengebieten des Zarenreiches leider oft nicht bewahrheitete. Eine große Anzahl Deutscher überlebte zudem die ersten strengen Winter nicht.
Durch harte Arbeit kamen viele Deutsche in den folgenden Jahrzehnten zu gewissem Wohlstand – ein Grund, warum in dieser Zeit eine antideutsche Stimmung wuchs, die 1914 im Verbot der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit gipfelte. Als Folge der kommunistischen Machtergreifung und Misswirtschaft wurden die Deutschen zwangsenteignet, und etwa 500.000 von ihnen verhungerten allein in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Josef Stalin beschuldigte die Deutschen nach dem Überfall von Hitler der Kollaboration. Deutsche wurden als „innerer Feind“ betrachtet, ihr Eigentum eingezogen, viele als rechtlose Arbeitssklaven ins Lager geschickt und 1941 mehr als eine Million nach Sibirien zwangsdeportiert. Familien wurden auseinandergerissen. Geschwister berichteten mir, wie sie tagelang in Viehwaggons transportiert und dann in den Weiten Sibiriens „abgekippt“ wurden, wo sie mit Entsetzen dem bevorstehenden Winter entgegensahen. Etwa 700.000 überlebten diese Strapazen nicht. Erst unter Leonid Breschnew kam eine Lockerung der Gesetze und viele Deutsche zogen des besseren Klimas wegen in die zentralasiatischen Gebiete der ehemaligen Sowjetunion.
Diese Deutschen, die wegen ihres Glaubens und ihrer Abstammung so viel durchgemacht hatten, wurden bei uns nicht immer freundlich empfangen. Während meiner Zeit in Kirgistan im Jahr 1992 erhielt ich Hintergrundwissen, sodass ich ihre Situation besser verstehen konnte. Natürlich muss man sich zweifellos ein Stück weit anpassen, wenn man in ein anderes Land mit einer anderen Kultur kommt. Aber wenn ein kulturübergreifendes Miteinander irgendwo möglich sein sollte, dann doch in Gottes Gemeinde. Lasst uns daher die Gelegenheit nutzen, um aufeinander zuzugehen!
Die erste christliche Schule des Landes
Was missionarische Bemühungen angeht, hat sich die Situation in Kirgistan radikal verändert. Was für ein Segen, dass unsere Geschwister die Zeit genutzt haben und 1997 die erste christliche Schule des Landes in Tokmok gründeten. Heute wäre dies ihren Aussagen nach nicht mehr möglich. Schwester Valentina besuchte 1992 auch unsere Vorträge, wurde aber nicht angesprochen. Ein Jahr später kam sie erneut, interessierte sich aber nur für die didaktische Aufbereitung. Erst nach einem weiteren Jahr fand sie zu Jesus und wollte als Lehrerin eine adventistische Schule gründen. Bei den ersten Gesprächen stieß sie bei den Vertretern der Behörden auf lautstarke Ablehnung. Doch Valentina gab nicht auf, und letztlich öffnete Gott die Türen für die Genehmigung unserer Schule, an der heute fast 400 Schüler lernen und 26 Lehrer unterrichten.
Es geht heute vor allem darum, die muslimischen Kirgisen zu erreichen, die eine ganz andere Sprache sprechen und kulturell viel weiter von den noch bestehenden Gemeinden entfernt sind. Was für eine Herausforderung, diese Menschen, die so anders sind, zu lieben und zu erreichen! So war es Teil meiner Aufgabe während meiner Dienstreise im Herbst 2017, die derzeit acht Theologiestudenten zu unterrichten, die sich am Seminar in Tokmok auf den Predigtdienst vorbereiten. Unter ihnen: die ersten beiden kirgisischen Theologiestudenten in der Geschichte der kirgisischen Mission. Sie kennen die Landessprache und sind mit der kirgisischen Kultur vertraut. Was für eine Chance, den neuen missionarischen Herausforderungen zu begegnen! Unter den Studenten befindet sich auch Aibek* – er ist Usbeke und der erste Angestellte dort, der kirgisisch predigen kann. Seine Anstellung und Ausbildung wird durch Gelder aus Baden-Württemberg ermöglicht. Als Baden-Württemberger empfinde ich durch die beschriebenen Eindrücke eine große Verantwortung für unser „Schwesterfeld“ Kirgistan. Umso mehr drängt sich mir die Frage auf: Könnten wir nicht noch mehr tun, um unsere Geschwister dort zu unterstützen – sei es durch Geldspenden, Freiwilligendienste oder Einsätze vor Ort? Sicherlich würde erneut sehr viel Segen auf uns zurückfallen.
*Der Name wurde von der Redaktion aus Sicherheitsgründen geändert.